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Kultur: Alle meine Feinde

JIM THOMPSON erzählt in „Jetzt auf Erden“ von seinem verzweifelten Kampf, ein Autor zu werden

Das Leben ist eine einzige tour de force für James Dilly Dillon. Kein Ort, an dem nicht die Hölle los ist: Ehefrau Roberta befindet sich im Dauerkrieg mit seiner Mutter; die Kinder sind Teufelsbraten, die Mutter eine störrische Matriarchin, der Vater demenzkrank in einem Heim. In der Flugzeugfabrik muss er das Chaos permanenter Fehlbuchungen im Materiallager ausbaden, Mobbing unter Kollegen gehört zum fröhlichen Alltagsritual. Doch am meisten schmerzt ihn, dass er nicht zum Schreiben kommt – und so bleibt Dilly manchmal nichts anderes übrig, als nachts mit seiner Schreibmaschine auf der Toilette zu sitzen. Output: eine Geschichte in einem halben Jahr.

Das Klo als locus terribilis literarischer Produktion ist ein schönes Sinnbild für den 1942 erschienenen Debütroman „Jetzt und auf Erden“ von Jim Thompson, der nun erstmals auf Deutsch vorliegt: Hier wird der ganz private Erfahrungshintergrund einer literarischen Produktion sichtbar, die die Gesellschaft als Kloake beschreibt. Stephen King schreibt in seinem Vorwort denn auch treffend, Thompsons Werk analysiere die „Stuhlproben der Gesellschaft“. Es gehe um Menschen, die wie „wuchernde Zellen in den Gedärmen der amerikanischen Gesellschaft hausen.“

Damit ist das Personal der auf das Debüt folgenden 28 Noir-Romane Thompsons gemeint. In dieser von Psychopathen, Kriminellen und Verrückten aller Art bevölkerten Welt nimmt sich jeder, was er will, egal mit welchen Mitteln. Am besten mit einem Colt. Der Debütroman zeigt die Gegenwelt zu diesen Gewaltfiktionen: das schiere ohnmächtige Überleben der amerikanischen Unterschicht während und nach der Great Depression. Jede Lebensregung muss sich hier gegen die chronische Geldknappheit behaupten, oft herrscht Hunger, alles kann sich schnell zu einem lebensbedrohlichen Drama auswachsen. In seiner Kindheit, erinnert sich Dilly, wurden seine Schwester und er auf dem Heimweg von Jugendlichen attackiert. Dabei zerbricht das Glas mit Malzmilchpulver – ihr einziger Einkauf, ihr Essen für diesen Tag. Nun verdankt Dilly seinen Job der Tatsache, dass sich die USA im Zweiten Weltkrieg befinden und die Rüstungsindustrie boomt. Doch es bleibt ein Leben auf des Messers Schneide. Denn alles kann immer noch schlimmer kommen: Als Dillys Schwester von einem Kollegen schwanger wird, soll der die Abtreibung bezahlen – eine ebenso illusorische Vorstellung wie die, Dillys Familie könne dies finanzieren. Und dann ist da noch Dillys frühere Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei.

„Jetzt und auf Erden“ zeigt den verzweifelten Kampf, ein Autor zu werden, wenn man alle Umstände gegen sich hat. Thompson erzählt präzise und poetisch, drastisch, mit grimmigen Humor. Noch zu Lebzeiten wurden zwei seiner Bücher verfilmt. Vielleicht ist sein Auftritt als Richter Grayle in der mit Robert Mitchum in der Hauptrolle besetzten Chandler-Verfilmung „Farewell, my lovely“ von 1975 eine kleine Verbeugung Hollywoods vor dem Autor, aber er war ein Vorbote: In den 80er und 90er Jahren setzte in den USA eine Thompson-Renaissance ein.

Am Ende seines Lebens, das er als Alkohol schmuggelnder Hotelpage, als Arbeiter auf den Ölfeldern, als mäßig erfolgreicher Drehbuchschreiber in Hollywood und als Pulp-Fiction-Autor verbrachte, war Thompson wieder arm. Alkoholkrank starb er 1977 – nicht aus Armut, sondern weil er aufhörte zu essen.

Jim Thompson: Jetzt und auf Erden. Roman. Mit einem Vorwort von Stephen King. Aus dem

Amerikanischen

von Peter Torberg.

Heyne, München 2011. 356 S., 9,99 €.

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