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Die 1988 in Paris geborene Schriftstellerin Emma Durand. Der deutsche Nachname Becker ist ihr Pseudonym.

© AFP

Bordell-Roman „La Maison“: Einblicke in die ewige Tabuzone

Emma Beckers Werk „La Maison“ steht in der französischen Tradition von Bataille und Zola. Es geht viel um Sex - und ihre eigenen Erfahrungen als Sexarbeiterin.

Am Ende kommen noch Janus, Olaf und Gerd zu Justine ins „La Maison“, wie das Wilmersdorfer Bordell in Emma Beckers gleichnamigem Roman (Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2020, 384 Seiten, 22 €) heißt. Sie bevorzugen SM-Praktiken, sind der Dominus, der fesselt, peitscht und würgt, während Justine die Sklavin darstellt, die gefesselt, gepeitscht und gewürgt wird. Janus „hat keinen anderen Wunsch, als seine kleine Fantasie von einem widerstrebenden Mädchen zu verwirklichen“, Olaf zeigt sich als „der Spezialist des Leerlaufs“. Und Gerd ist derjenige, „dessen bloßer Name ,La Maison’ auf den Kopf stellt“, den alle großartig finden: „Gerd kennt sein Geschäft. Jede der glücklichen Auserwählten wird es bestätigen.“

Justine fungiert als Ich-Erzählerin in Emma Beckers drittem Roman, der in Frankreich für Aufsehen und Proteste von Feministinnen sorgte und der jungen, 1988 in Paris geborenen und inzwischen in Berlin lebenden Schriftstellerin zahlreiche Literaturpreise bescherte. Becker, die eigentlich Durand mit Nachnamen heißt, hat selbst über zwei Jahre lang in zwei Berliner Bordellen gearbeitet, eben weil sie darüber schreiben wollte. Weil diese Idee „mehr oder weniger bewusst immer da“ gewesen sei: „Ich habe meine Karriere und dieses Buch also im Coco's begonnen, im warmen Nest des extravaganten Luxus einer riesigen Wohnung, ohne je das Gefühl loszuwerden, dass langsam eine Falle über mir zugeht."

Das „Coco's“ liegt in der Schlüterstraße in Charlottenburg. Hier hält es Justine, wie Becker sich genannt hat, „weil es einfach ist und wegen de Sade“, nur zwei Wochen aus. Dieses Bordell ist ein brutaler, von Zuhältern und gestreng-unfreundlichen Hausdamen dominierter Ort, an dem die fast alle aus Osteuropa stammenden Prostituierten wie Gefangene gehalten werden. Im „La Maison“ dagegen geht es freundlicher zu, familiärer. Es ist ein Ort des Zusammenhalts, so wie Becker ihn beschreibt, ein Ort, um den sie richtiggehend trauert, als er geschlossen wird.

Natürlich geht es viel um Sex

Becker erzählt, wie es dort aussieht, wie die Aufteilung der Zimmer ist, was in den Zimmern mit den „Freiern“ passiert, wie sie und ihre Kolleginnen warten und sich die Zeit vertreiben. Natürlich geht es viel um Sex, um Sexpraktiken; auch die Gründe der Männer, ins „La Maison“ zu kommen, schimmern durch, die Beweggründe der Frauen, hier zu arbeiten, ihre Einstellung zu Liebe und Sex.

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Zu Beginn jedoch beschreibt Becker ausführlich, wie sie zu ihrem Thema gekommen ist. Da erzählt sie von den Begegnungen mit Stéphane, der viele Jahrzehnte älter und einer ihrer besten Freunde ist. Oder von einem Dreier, den Justine dem gleichaltrigen Joseph schenkt. Joseph ist ihre große Liebe in Paris in jungen Jahren; das Date mit Larissa, einem russischen Escort-Girl, wird für das junge Paar zu einem Reinfall.

Vermutlich will Becker damit ihre Psyche, die ihrer Erzählerin genauer fassen, auch an den in diesem Fall einschlägig bekannten literarischen Verweisen spart sie nicht, von Bataille über Zola und Miller bis Louis Calaferte. Nur bekommt ihr Buch in der Folge etwas arg Mäanderndes, häufig auch Langatmiges. Von einer stringenten Geschichte kann keine Rede sein, mehr von einer Abfolge von Szenen, die mit Songtiteln von Bands wie Gun Club, White Stripes, Velvet Underground, T. Rex, Télephone und vielen anderen überschrieben sind (vor allem der Underground-Blues scheint es der Autorin angetan zu haben, tolle Playlist jedenfalls). „Juwelen“ nennt sie dieses Nummernprogramm und gesteht, dass dieses „beliebig aneinandergereiht“ sei.

„Was mich hier festhält, sind die Mädchen, ihre Geschichten“

Es gibt also hier den Chefarzt, der Justine zu Hause aufsucht, als sie krank ist, der sich vorher schon in sie verliebt hat – und der einmal kurz selbst als Ich-Erzähler die Perspektive übernimmt (warum bloß?). Dann gibt es dort einen gewissen Mark, der Justine im Bordell an eine alte Liebe erinnert hat und ebenfalls irgendwann zu ihr nach Hause kommt, privat, vor allem jedoch, um Sex zu haben. Und es gibt hier Lorna, eine Icke-Berlinerin, die einen Monolog über ihre Arbeit hält, und dort Svetlana, die eines Tages einfach weg ist, was in diesem Gewerbe gang und gäbe ist.

Ja, und im letzten Viertel des Buches, da ist „La Maison“ schon geschlossen, da verliert sich Emma Becker mehr und mehr in Reflexionen über ihren Job als Prostituierte („Irgendwann wird unweigerlich eine Zeit kommen, in der einem die Argumente gegen die glückliche Hure ausgehen.“), tauchen urplötzlich noch eben jene eingangs erwähnten deutschen SM-Liebhaber auf und werden kurz beschrieben.

„Was mich hier festhält, sind die Mädchen, ihre Geschichten“, sagt Justine einmal zu ihren Tagen im „Coco's“. Diese Geschichten jedoch erzählt sie kaum, noch weniger als die der Männer. Es sind halt nurmehr Bruchstücke, die Emma Becker privat von ihren Kolleginnen erfährt, bei aller spürbaren gegenseitigen Sympathie, bei aller Wehmut über die vergangene Zeit im „La Maison“. Für ganze, geschlossene Lebenserzählungen sind die Welt im Bordell und jene draußen zu klar voneinander abgegrenzt. Wie es drinnen jedoch zugeht, wie Männer und Frauen sich in dieser ewigen Tabuzone begegnen, dafür verschafft dieses Buch so manche Einblicke.

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