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Repräsentativ. Der Entwurf des Neubaus für die Nationalbibliothek stammt vom Schweizer Büro Herzog + de Meuron.

©  dpa/Sara Lemel

Bücherstadt Jerusalem: Wo die Schrift lebt

Jerusalem besitzt viele Orte des Buches, bald kommt ein Neubau für die Nationalbibliothek hinzu. Ein Streifzug mit Kritiker Benjamin Balint, dessen neue Kafka-Studie erschienen ist.

Die Baugrube ist ausgehoben, auch eine „Musterecke“ des künftigen Gebäudes steht bereits: Israel schafft sich einen Neubau für die Nationalbibliothek, genau zwischen dem Gebäude des Parlaments, der Knesset, und dem weitläufigen Komplex des Israel Museums. Hügelig und mit viel Grün ist es keine Gegend, in die sich ein Passant verirrt. Hierher kommt man mit Auto oder öffentlichem Busverkehr. Hier repräsentiert sich Israel als Demokratie und Kulturstaat. Hier entsteht ein Neubau nach Entwurf des weltweit tätigen, weltweit gefragten Basler Architekturbüros Herzog + de Meuron.

Das bisherige Gebäude der Nationalbibliothek liegt auf dem Campus Givat Ram der Hebräischen Universität und diente von 1925 bis 2010 zugleich als Universitätsbibliothek. Es wurde 1960 bezogen und zeigt die damals geschätzte Balance zwischen Offenheit und Repräsentation: Die große Treppe im Inneren führt auf eine große Glasmalerei zu, die Wissenschaften darstellend. Ein bisschen erhebend soll es schon sein, bevor es in die funktionalen Lesesäle geht. Gleich links vom Glasgemälde führt eine unscheinbare Tür in einen vom allgemeinen Buchbestand abgetrennten Bereich. Dort befindet sich die Bibliothek von Gershom Scholem, dem großen Erforscher der jüdischen Mystik der Kabbala, der 1923 aus Berlin nach Jerusalem übersiedelte. Er lehrte an der Hebrew University von 1925 bis zu seinem Tod 1982.

Seine private Bibliothek ist so bedeutend, dass sie als Sondersammlung in eigenen Räumen in die Nationalbibliothek integriert wurde. Die Bücher auf Hebräisch sind in einem Raum versammelt, der einem Wohnzimmer ähnelt, zumal zwei Charles-Eames-Loungechairs zum Stöbern einladen; die anderen, nochmals zahlreicheren Bücher stehen in einem Magazinsaal nebenan. Darunter findet sich das Buch des 1945 auf einem der KZ-Todesmärsche umgekommenen Kulturhistorikers Matthias Mieses, „Der Ursprung des Judenhasses“, erschienen in Berlin in jenem Jahr 1923, an dessen Ende Scholem für immer nach Palästina ging. Eine Vitrine bewahrt Memorabilia wie Brieföffner und -beschwerer des Gelehrten, dazu eine Visitenkarte mit der Privatadresse „28, Abarbanel Street“.

Trutzburg. Das Rockefeller Museum in der Nähe des Damaskustors.
Trutzburg. Das Rockefeller Museum in der Nähe des Damaskustors.

©  Bernhard Schulz

Über das Haus Scholems in besagter Straße im Gelehrten- und Emigrantenviertel Rechavia unterrichtet Thomas Sparrs wunderbares Buch „Grunewald im Orient“, das auf dem mehrjährigen Aufenthalt des Autors Ende der 1980er Jahre beruht. Das ist auch schon wieder eine Generation her. Das Haus, das Scholem bewohnte, steht verlassen und ein wenig verwittert in der Nachbarschaft neuerer, eleganter und sündteurer Apartmenthäuser. Rechavia war eben stets „Villenstadt der Wohlhabenden“, wie die Emigrantin Gabriele Tergit 1933 schrieb, damals freilich „noch baum- und rasenlos“. In den 80ern war das Viertel schon mehr halb verwehte Erinnerung denn gelebte Gegenwart, und heute ist es nur mehr durch seine Straßennamen mit der Vergangenheit verbunden. Scholems Bibliothek, über deren Zustandekommen Sparrs Buch Auskunft gibt, wächst unterdessen seit der Überführung in die Öffentlichkeit unablässig weiter; kein stummes Monument, sondern eine Forschungsbibliothek.

Aber Jerusalem beherbergt weit mehr Bibliotheken als die öffentlich zugänglichen. Der Autor und Kritiker Benjamin Balint, der unter anderem Literatur an der im Westjordanland gelegenen Al-Quds-Universität gelehrt hat – Al Quds ist der arabische Name für Jerusalem – und dessen Buch „Kafkas letzter Prozess“ über den Eigentumsstreit an Kafkas Nachlass jetzt im Berliner Berenberg Verlag erschienen ist (334 S., 25 €), hat über Jahre hinweg die Bibliotheken Jerusalems erforscht. Die wenigsten sind öffentlich zugänglich. Diejenige des griechisch-orthodoxen Patriarchats aufsuchen zu dürfen, hat Balint jahrelang Bittgesuche stellen müssen, die aufs Freundlichste abgelehnt wurden. Ähnlich verhält es sich mit der Bibliothek der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg, dem muslimischen Areal oberhalb der Klagemauer, wo es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. Er steht unter der Verwaltung einer jordanischen Waqf, einer Wohlfahrtsstiftung, die Balint eine Ausnahmegenehmigung ausstellte. Dort oben, erzählt er im Gespräch mit dem Tagesspiegel, werden Manuskripte restauriert, übrigens mit finanzieller Unterstützung der Unesco.

Zukunft der Fachbibliothek ist unklar

Gerade in Jerusalem ist Archäologie ein Fach von unmittelbar politischer Bedeutung, wie die Grabungen am Tempelberg ein ums andere Mal bezeugen. Für eine frühere, allein auf wissenschaftliche Erkenntnis gerichtete Archäologie steht das zur britischen Mandatszeit und nach seinem Mäzen benannte Rockefeller Museum knapp außerhalb der Altstadt schräg gegenüber dem Damaskustor. Seine Zukunft, vor allem aber die seiner Fachbibliothek ist unklar, seit die im Verwaltungstrakt des Museums untergebrachte israelische Antikenverwaltung ihrem Umzug in einen Neubau im Westen der Stadt entgegensieht. Museum und Bibliothek stehen für einen historischen Abschnitt in der Geschichte des Landes, die Mandatszeit, und dieser Zusammenhang droht verloren zu gehen.

Nach dem Genozid an den Armeniern 1915 brachten Flüchtlinge griechische Manuskripte nach Jerusalem, die bis ins 6. Jahrhundert zurückreichen. Armenische Christen sind seither in der Heiligen Stadt ansässig; sie geben einem der Viertel der Altstadt seinen Namen. Es gebe, sagt Balint, auch eine Bibliothek von Schriften in aramäischer Sprache, der Sprache Jesu, die nur noch von wenigen gesprochen wird. Außerhalb der Mauern aus ottomanischer Zeit hingegen ist die Bibliothek der École Biblique der französischen Dominikaner angesiedelt. Sie bewahrt unter anderem die Grammatiken und Lexika, die Ben Yehuda, der Schöpfer der modernen hebräischen Schriftsprache, konsultiert hat. „Die Geburt des modernen Hebräisch vollzog sich unter Mithilfe von Dominikanermönchen!“, bemerkt Balint und setzt hinzu: „Kein einzelner Mensch spricht alle Sprachen, die in Jerusalem gesprochen werden.“ Um wie viel mehr gilt dies für all’ die Sprachen, deren Bücher in Bibliotheken ruhen!

In Ost-Jerusalem besitzt die angesehene Familie Khalidi eine bemerkenswerte Privatbibliothek, die gleichfalls der Öffentlichkeit verschlossen ist. Damit kommt Balint auf ein weiteres Thema zu sprechen. Nach Norden hinaus führt die Nablus Road, an der sich lange Zeit Ost und West schieden, bevor die Waffenstillstandsgrenze von 1949 ein wenig weiter westlich gezogen wurde. Hier liegt die „American Colony“, eine Art Enklave und seit Jahrzehnten durch das ebenso benannte Hotel berühmt. Die amerikanische Kolonie, so Balint, sei ein Beispiel für die vielen, „die mit messianischen Hoffnungen nach Jerusalem“ kämen. Nicht zuletzt habe der deutsche Kaiser Wilhelm II. 1898 bei seinem Besuch im Heiligen Land dort genächtigt; es gebe immer noch das originale „Kaiserzimmer“.

Villa Schocken ist heute Teil eines abgeschirmten Areals

Und zur deutschen Vergangenheit zählt selbstverständlich die berühmteste Privatbibliothek Jerusalems, die nach dem Willen ihres Stifters heute der Allgemeinheit zur Verfügung steht: die Bibliothek des Kaufhausbesitzers und Verlegers Salman Schocken, erbaut 1934–36 von Erich Mendelsohn, dem Berliner Emigranten, der auf dem Umweg über England nach Palästina kam und seinem langjährigen Auftraggeber Schocken Bibliothek und Wohnhaus entwarf. Die Villa Schocken gehört heute zum streng abgeschirmten Areal der Residenz des Ministerpräsidenten – er bewohnt die Villa Aghion, die der aus Frankfurt gebürtige Richard Kauffmann 1938 erbaute –, und auch die benachbarte Schocken Library ist nur nach Einlass ins Ministerpräsidentenquartier durch den Kontrollposten zugänglich.

Westlich davon erstreckt sich das Viertel Rechavia, in dem Gershom Scholem lebte, der ursprünglich Gerhard hieß und einer der drei so unterschiedlichen Jungen der Berliner Eltern Scholem war. Ob er von seinem neuen Nachbarn Salman Schocken Notiz genommen hat, der im Unterschied zu ihm selbst erst zur Zeit der Nazi-Verfolgung das Gelobte Land betrat?

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