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Blutweihnacht. Kämpfe im Pfeilersaal des Berliner Schlosses.

© Bundesarchiv/Wikipedia

Der 24. Dezember 1918: Schicksalstag der deutschen Revolution

Eine historische Stunde, die ungenutzt blieb: Weihnachten in Berlin 1918. Ein Gastbeitrag des Direktors des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Ein Foto hat die dramatische Szene eingefangen: Angehörige der Volksmarinedivision erwidern am Morgen des 24. Dezember 1918 das Artilleriefeuer von Regierungstruppen, das eben ihre Verteidigungsstellung im Pfeilersaal des Berliner Schlosses getroffen hat; sechs Mann richten in fieberhafter Eile die durcheinandergeworfenen Maschinengewehre neu aus, ohne einen Blick für den toten Kameraden übrig zu haben; ein weiterer Matrose spurtet mit einer Munitionskiste über den von Glassplittern und Mobiliartrümmern übersäten Teppich, um Nachschub an die Frontlinie zu bringen

Die Szene hält das bewaffnete Vorgehen der sozialistischen Revolutionsregierung gegen ihre eigene Revolutionsgarde fest, die Anfang November von den norddeutschen Küsten aus den Aufstandsfunken in das Reich getragen und die morschen Pfeiler der Monarchie zerbrochen hatte. Der blutige Weihnachtskonflikt in der Mitte Berlins stellt einen vergessenen Moment der deutschen Geschichte dar. Aber es gibt gute Gründe, den 24. Dezember 1918 für den eigentlichen Schicksalstag der deutschen Revolution zu halten.

Das Reich geht zum Teufel

In seinem Zentrum standen abermals die meuternden Matrosen, die Ende Oktober und Anfang November 1918 in Wilhelmshaven und Kiel das Signal zur Empörung gegen den sinnlos gewordenen Krieg gegeben hatten. Mehrere Dutzend von ihnen waren mit der revolutionären Welle nach Berlin gelangt, und für einige Wochen schien es, als würden die meuternden Matrosen, die Deutschlands weitere Kriegsführung unterbunden hatten, nun auch zum militärischen Garanten der neuen Ordnung werden.

Doch statt das Machtvakuum zu füllen, das das zusammengebrochene Kaiserreichs hinterlassen hatte, sank die „erste Rote Garde der deutschen Revolution“ in den folgenden Wochen zu einer marodierenden Söldnertruppe ohne politische Aufgabe herab, deren einzige Leistung darin bestand, den Ruf der Revolution besonders in Kreisen des Berliner Bürgertums nachhaltig zu schädigen. „Jeden Tag ist auf den Straßen Berlins etwas Neues los; aber das Reich geht dabei zum Teufel“, notierte der Diplomat und Publizist Harry Graf Kessler am 22. Dezember 1918 in seinem Tagebuch, und fand, dass dank der zwischenzeitlich von der Front zurückgekehrten Truppen die Zeit „reif für eine große Entscheidung“ wäre.

Er ahnte nicht, wie hellsichtig seine Einschätzung war. Als Stadtkommandant Wels sich am nächsten Tag weigerte, den Matrosen ihren fälligen Sold zu zahlen, bevor sie nicht das Schloss geräumt hätten, besetzten die aufgebrachten Matrosen am 23. Dezember erst die Reichskanzlei und dann die Stadtkommandantur samt ihrer Telefonzentralen, um die Herausgabe der zugesagten Gelder zu erzwingen. Als Ebert von der verzweifelten Lage seines von den Matrosen unter Lynchdrohungen in den Marstall verschleppten Parteifreundes erfuhr, erteilte er über eine geheime Direktleitung dem preußischen Kriegsminister Weisung, „das Erforderliche zu veranlassen, um Wels zu befreien“. Damit gab die bedrängte Regierung sich in die Hände eben der Ordnungsmacht, die sie sieben Wochen zuvor friedlich überwunden hatte.

„Brüder, nicht schießen“

„Ebert bittet O.H.L. um Hilfe", vermerkte Generalquartiermeister Wilhelm Groener befriedigt in seinem Tagebuch. Noch in der Nacht rückten 1200 Infanteristen der in Potsdam und Babelsberg liegenden Gardedivisionen heran, um im Dunkel der Nacht Schloss und Marstall zu umstellen und einen Angriff vorzubereiten. Das bedrohte Leben des Stadtkommandanten spielte bei diesem martialischen Aufmarsch, der sich als Beginn einer großangelegten Säuberung zur Schaffung von Ruhe und Ordnung verstand, die allergeringste Rolle.

Der Angriff auf die Revolution im Auftrag der Revolutionsregierung begann erfolgreich – und endete als Desaster. Die um acht Uhr nach der Ablehnung eines auf zehn Minuten befristeten Ultimatums losbrechende Kanonade ließ Granate um Granate in das Schloss und den Marstall einschlagen, sie zerstörte den Balkon, von dem aus Kaiser Wilhelm II. im August 1914 zum Krieg aufgerufen hatte, und sie brachte die eingeschlossenen Matrosen in eine verzweifelte Lage.

Durch die freigeschossenen Portale konnten ein- und zweihundert Mann starke Sturmtrupps der Garde-Ulanen mit Handgranaten ohne Verluste in die Innenhöfe vorstoßen. Aber von der Straße nahte Rettung. In ihren Wohnvierteln und Betrieben alarmiert, drängten mehr und mehr Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, zum Schauplatz des Geschehens, ihr Auftauchen wendete das Blatt. Um zehn Uhr wurde eine Kampfpause vereinbart, um Verwundete, Frauen und Kinder aus dem Schussfeld zu bringen, und bei der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen begann die Moral der Regierungssoldaten zu sinken. Gefangene Matrosen wurden von Arbeitern befreit, abseitsstehende Soldatenabteilungen entwaffnet; erst einzelne, dann immer mehr von ihnen legten das Gewehr nieder oder gingen zu den Matrosen über, der Ruf „Brüder, nicht schießen“ pflanzte sich fort. Als der Heilige Abend anbrach, war die Volksmarinedivision unvermutet Herrin der Lage.

Niemand nahm das Heft des Handelns in die Hand

Die Regierungstruppen zerstreuten sich, um Weihnachten zu feiern, Wels war wieder in Freiheit, und den Matrosen wurde ihre Löhnung ausbezahlt. „Eberts Blutweihnacht“ titelte die Rote Fahne am nächsten Tag in klagendem Ton; aber niemand nahm das Heft des Handelns in die Hand, und die historische Sekunde verstrich ungenutzt, an dem die revolutionäre Bewegung ein letztes Mal über die militärische Gewalt triumphierte. Sie schwächte sich mit dem Austritt der Linkssozialisten von der USPD aus dem Rat der Volksbeauftragten in den nächsten Tagen selbst, während die OHL ihre eigenen Schlüsse zog und die Aufstellung von Freikorps statt der unzuverlässigen Feldsoldaten in Angriff nahm.

Als Anfang Januar 1919 neuerliche Unruhen ausbrachen, standen entschlossenere Truppen bereit, um die republikanische Ordnung militärisch für den Augenblick zu stabilisieren – und mit der Hypothek einer erstickten Gründungsrevolution politisch langfristig zu belasten.

Martin Sabrow ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, er lehrt an der Humboldt-Universität Berlin. Eine ausführlicheren Version des Beitrags ist auf dem Online-Portal des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam „Visual History“ nachzulesen: www. visual-history.de.

Martin Sabrow

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