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Sandy Smith führt Harper-Lee-Fans durch Monroeville, Alabama.

© Michael Spooneybarger / Reuters

Harper Lee: "Gehe hin, stelle einen Wächter": Der Fall des Atticus Finch

50 Jahre nach dem Welterfolg von "Wer die Nachtigall stört" wurde "Gehe hin, stelle einen Wächter" ausgegraben. Darin bringt Harper Lee ihren eigenen Helden zu Fall und kratzt am idealisierten Selbstbild der Amerikaner.

Harper Lee heißt eigentlich Nelle, so jedenfalls durften ihre Freunde sie nennen. Das war der Name ihrer Großmutter, rückwärts buchstabiert. Nelle Lee wurde 1926 geboren und wuchs in Monroeville, Alabama auf. Ihr Vater zählte zu den Honoratioren des verschlafenen Kleinstädtchens, er war Rechtsanwalt, gab die Zeitung Monroe Journal heraus und hatte sich als Senator von Alabama den Wind der Hauptstadt Montgomery um die Nase wehen lassen. Die Mutter war unendlich fett, verbrachte die Tage im Schaukelstuhl, redete wirres Zeug und besaß nur eine Leidenschaft: Kreuzworträtsel. Psychisch instabil hatte sie zwei Mal versucht, ihre jüngste Tochter in der Badewanne zu ertränken. „Beide Male wurde Nelle von einer älteren Schwester gerettet“, erzählt ihr Freund aus Kindertagen Truman Capote, der im Haus nebenan wohnte. „Wenn sie von den unwahrscheinlichen Geschichten des Südens sprechen, ist das durchaus wörtlich zu verstehen!“

Die wilde Nelle und der abenteuerlustige Truman wurden zu einem gefürchteten Duo, das durch die Gärten tobte. Dass Nelle Harper Lee später ihr Jura-Studium abbrach, nach New York ging und es mit dem Schreiben versuchte, verdankte sie vor allem den Ermutigungen Capotes. Sie fand einen Agenten und einen Verlag und begann, die gemeinsame Vergangenheit zum Stoff eines Romans zu machen. Sie schnitt sogar eine Figur auf Capote zu: den kleinen Dill, der voller wunderlicher Ideen steckt. Capote war schon in seinem Debüt „Andere Stimmen, andere Räume“ (1948) in den mythischen Kosmos Alabamas zurückgekehrt und hatte die Freundin ebenfalls porträtiert. Die beiden teilten ein morbides Interesse an Verbrechen. Im Winter 1959 nahm Truman Capote sie mit nach Kansas, wo er den Mord an der Farmerfamilie Clutter recherchierte, die Grundlage für seinen berühmten dokumentarischen Roman „Kaltblütig“ (1966).

"Wer die Nachtigall stört" machte Harper Lee zum Star

Kurz darauf passierte etwas Unvorhergesehenes: 1960 erschien Nelles Debüt „Wer die Nachtigall stört…“, und die Nachwuchsautorin, die sich mittlerweile Harper Lee nannte, wurde über Nacht zum Star. Ihr Roman gilt heute als das meistgelesene Buch der USA über Rassismus, hat ganze Generationen geprägt und verkaufte sich weltweit über 40 Millionen Mal. Zu einer Ikone der amerikanischen Kulturgeschichte brachte es der von Lees Vater inspirierte Rechtsanwalt Atticus Finch.

Dramaturgischer Dreh- und Angelpunkt des Kindheitspanoramas ist nämlich ein Gerichtsprozess, bei dem Finch unbeirrbar einen schwarzen Mandanten gegen die Anschuldigung verteidigt, eine weiße Frau vergewaltigt zu haben. Es kommt nicht zum Freispruch, aber der Rechtsanwalt erringt einen moralischen Sieg. Atticus Finch ist so, wie der gebildete weiße Amerikaner zu Beginn der sechziger Jahre gern sein wollte: anständig, unbestechlich und auf der Seite der Schwachen. Was heute paternalistisch wirkt, traf damals den Nerv der Zeit, erst recht in der Verfilmung von George Mulligan mit Gregory Peck. Atticus Finch wurde zur Lichtgestalt eines neuen Amerika.

Bücher "Gehe hin, stelle einen Wächter" von Harper Lee.
Großes Aufhebens um einen wiederentdeckten Roman: "Gehe hin, stelle einen Wächter" ist auch schon auf Deutsch erschienen.

© Sven Hoppe / dpa

Rückkehr nach Maycomb

Harper Lee veröffentlichte nur diesen einzigen Roman, weitere Schreibversuche endeten im Nichts, ein Sachbuch über einen Serienmörder scheiterte. Ihre Interessen als Autorin vertrat die ältere Schwester Alice, eine Juristin. Ihr letztes Interview gab Lee in den sechziger Jahren. Was lediglich ihre Lektorin und wenige Vertraute wussten: „Wer die Nachtigall stört…“ hatte einen Vorläufer mit demselben Personal und demselben Schauplatz, nur dass diese Geschichte zwanzig Jahre später spielt und von der Rückkehr der erwachsenen Heldin nach Maycomb, wie Monroeville bei Lee heißt, erzählt.

1957 abgeschlossen und dem Verlag übergeben, empfahl Lees Lektorin, das vorhandene Manuskript „Gehe hin, stelle einen Wächter“ zu überarbeiten, die Handlung in die Zeit der Depression vorzuverlegen, die Erzählperspektive zu ändern und den Gerichtsprozess ausführlicher zu schildern. Die Dame schien ein Gespür für den Zeitgeist und für Harper Lees Potenzial zu haben, denn dass „Wer die Nachtigall stört…“ in der durchgesehenen und gerade neu bei Rowohlt erschienenen Übersetzung heute noch verfängt, liegt vor allem am losen Mundwerk der Ich-Erzählerin Scout. Mit großem Mediengetöse und als Entdeckung lanciert, erscheint nun der damals verworfene Roman „Gehe hin, stelle einen Wächter“. Scout, die ihrem Alter gemäß jetzt meistens Jean Louise gerufen wird, ist zunächst hingerissen von der Ursprünglichkeit ihrer alten Heimatstadt und fast so weit, ihren Jugendfreund Hank zu heiraten. Doch dann muss sie den wahren Kern ihres vermeintlich liberalen Vaters Atticus entdecken.

Die Idealisierung zerbricht - Scout wird erwachsen

Finch fürchtet um die Privilegien der weißen Einwohnerschaft und engagiert sich im Bürgerrat für Segregation. Dass Schwarze volle staatsbürgerliche Rechte erhalten sollen, ist ihm ein Graus: „Willst du scharenweise Neger in unseren Schulen und Theatern? Willst du sie in unserer Welt?“, fragt er seine Tochter. Jean Louise ist entsetzt. Die Idealisierung zerbricht, sie wird endgültig erwachsen.

„Gehe hin, stelle einen Wächter“ ist ein eher konventioneller Roman mit einigen starken Momenten. Der Konflikt wird schematisch in Streitgesprächen zwischen Jean Louise und ihrem Vater, Jean Louise und ihrem Verlobten, Jean Louise und ihrem Onkel durchdekliniert. Das charmant Plaudertaschenhafte des Debüts weicht hier einer kontrollierten und langweiligeren Erzählerstimme, die sämtliche Geschehnisse von außen in den Blick nimmt. Der Schluss ist amerikanisch-pragmatisch-versöhnlich und kippt ins Süßliche: Der Onkel überzeugt die empörte Jean Louise, in Maycomb zu bleiben, die Differenzen mit dem Vater auszuhalten und für ihre eigenen Überzeugungen einzutreten. „Gehe hin, stelle einen Wächter“ hat aber gerade heute eine beachtliche gesellschaftspolitische Relevanz: Hier zeigt sich, wie tief die Verwerfungen in den fünfziger Jahren waren. Während der tapfere Atticus Finch aus „Wer die Nachtigall stört…“ ein aufgeklärter Bürger war, verkörpert er nun einen sehr viel unangenehmeren und vermutlich typischeren Repräsentanten des weißen Amerika.

In den USA wird spekuliert, warum das Werk jetzt veröffentlicht wurde

Die Umstände, unter denen „Gehe hin, stelle einen Wächter“ jetzt herauskommt, sind allerdings merkwürdig. Im vergangenen Winter ließ Harper Lees Rechtsanwältin Tonja B. Carter plötzlich verlauten, sie sei überraschend auf ein vergessenes Manuskript „Nelles“, wie sie die Autorin bewusst nennt, gestoßen. Kürzlich berichtete die „New York Times“ jedoch, dass eben jene Anwältin, Alice Lee und Harper Lees Agent schon im Oktober 2011 etliche Materialien der Autorin von Southeby’s begutachten ließen. Der Experte des Auktionshauses vermutet, den Blätterstapel von „Gehe hin, stelle einen Wächter“ in den Händen gehalten zu haben.

In den USA spekuliert man seither über die Gründe, die Harper Lee bewogen haben mögen, das frühe Werk ausgerechnet jetzt zu veröffentlichen – zumal Alice 2014 starb, Carter den Agenten entließ, und Harper Lee äußerst gebrechlich ist. Beachtlich ist vor allem eines: Die hoch betagte Schriftstellerin bringt ihren eigenen Helden zu Fall. Und kratzt am idealisierten Selbstbild der Amerikaner.

Maike Albath

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