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Im Stück mit Veit Schubert und Alma Sadé wird das Zimmer rekonstruiert, in dem  Ehepaar unter den Nazis leben musste.

© JR Berliner Ensemble

Erinnerungsarbeit am Berliner Ensemble: Requiem auf einen jüdischen Kaufmann

Von den Nazis ins „Judenhaus“ gezwungen: „Felix’s Room“ am Berliner Ensemble rekonstruiert das Schicksal eines jüdischen Kaufmanns in Mainz

Geschichte wird immer auch in Zahlen erzählt. Die Barockkommode aus furniertem Nussbaum und Tanne, die da einsam angestrahlt auf der Bühne steht, misst 79 Zentimeter in der Höhe, ist 117 Zentimeter breit und 64 Zentimeter tief. Ihre Inventarnummer lautet 0/4008, mutmaßlich wurde sie im September 1942 durch das Finanzamt der Stadt Mainz beschlagnahmt.

Das alles besitzt freilich nur begrenzte Aussagekraft. Vielsagend ist, wem die Kommode gehört hat: dem Teppichhändler und Kunstsammler Felix Ganz, den sie den „Kaufmann von Mainz“ nannten. Mit seiner Firma machte er Geschäfte in Konstantinopel, Smyrna, Tiflis und Saloniki und veranstaltete in seinem Haus auf dem Michelsberg legendäre Feste.

Bis er umziehen musste, mit seiner zweiten Frau Erna. In ein sogenanntes „Judenhaus“, wo sie nur ein kleines Zimmer bewohnten, in dem die Kommode zwischen Kleiderschrank, Kochplatte und Kachelofen Platz finden musste. Und wo die Fenster – 1,54 Meter groß – direkt auf das gegenüberliegende Gestapo-Hauptquartier blickten. Ganz war dort zwei Mal inhaftiert, einmal wegen „verdeckten Sterns“.

Musikalisch erinnerte Leben

Adam Ganz, der Urenkel des Mainzer Kaufmanns, ist vor ein paar Jahren auf eine Skizze gestoßen, die Felix von diesem Zimmer angefertigt hatte. Auf der Probebühne des Berliner Ensembles ersteht der Raum jetzt wieder auf, dank avancierter Technik. Holografisch, plastisch, begehbar, wie anfassbar wirkend.

Adam Ganz – Regisseur, Drehbuchautor und Professor an der Royal Holloway University of London – hat sich mit einem Kreativstudio namens ScanLAB Projects zusammengetan, um ein 3-D-Modell des Zimmers anfertigen zu lassen, das sich auch drehen und wenden lässt und alle möglichen Perspektiven auf die Vergangenheit zulässt. Im Zentrum von „Felix’s Room“ stehen aber nicht die Effekte, sondern die erinnerten Leben.

Die Inszenierung ist eine Art Requiem, eine musikalische Reise in die virtuelle Realität. Das Berliner Ensemble kooperiert dafür mit der Komischen Oper, unter Leitung von Christoph Breidler spielt ein Live-Orchester Mendelssohn („Auf Flügeln des Gesanges“), Oscar Straus („Küss mich“ aus den „Perlen der Cleopatra“) oder Verdis „Sempre Libera“. Musik, die Felix Ganz liebte.

Seine Tochter Olga – in einer Szene von Julia Domke verkörpert – war eine gefragte Opernsängerin und Radiostimme. Zudem hat die Komponistin Tonia Ko ein Stück eigens für die Kommode geschrieben. Das einzige Möbelstück aus Ganz’ Besitz, das noch erhalten geblieben ist.

Geschichten zwischen den Zeilen

Veit Schubert spielt diesen Geschäftsmann mit Kunstsinn, Alma Sadé seine sangesfreudige, ebenfalls um Zuversicht ringende Frau Erna. Regisseur Adam Ganz nimmt selbst an einem Tisch neben dem Geviert aus Vorhängen Platz, das sich per Projektion in den Raum im „Judenhaus“ verwandelt, und führt als Erzähler durch die Geschichte.

Er ordnet beispielsweise die zahlreichen Briefe aus dem Nachlass von Felix Ganz ein, die vorgetragen werden, aber teils nur schwer zu verstehen sind. „Es gibt so vieles, was er nicht schreiben konnte“, sagt der Urenkel. Schließlich wurde jeder Bereich ihres Lebens kontrolliert. Die Mitteilung der wahren Nöte sowie Bitten an Freunde rückten oft zwischen die Zeilen.

Dieser eindringliche, stimmig komponierte Abend setzt auf berührende Weise Puzzleteile zusammen, ohne Anspruch auf ein vollständiges Bild zu erheben. Dass Felix und Erna Ganz von den Nazis ins Konzentrationslager verschleppt und ermordet wurden, das etwa breitet „Felix’s Room“ nicht aus. „Ich möchte nicht“, so Adam Ganz, „dass man sich die beiden nach ihrer Deportation vorstellt“, herabgewürdigt zu zwei Zahlen unter vielen. Er lässt die Geschichte anders enden. „Man wollte, dass wir gehen“, sagt Erna. Und Felix schließt: „Wir sind geblieben“.

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