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Kultur: Es gab nie mehr ein Lächeln wie seines

Notizen und Novitäten über den Welt-Dichter Anton Tschechow, der heute vor 100 Jahren in Deutschland gestorben ist

„Meiner Meinung nach sollte man, wenn man eine Erzählung geschrieben hat, den Anfang und den Schluss streichen. Da schwindeln wir Belletristen am meisten...“

(Anton Tschechow zu dem zehn Jahre jüngeren Dichter Ivan Bunin)

Als der Sarg des am 15. Juli des Jahres 1904 im sommerheißen süddeutschen Kurort Badenweiler verstorbenen Anton Pawlowitsch Tschechow ein paar Tage später am Moskauer Bahnhof eintraf, stand er in einem Güterwaggon mit der Aufschrift „Für Austern“. Über diesen späten Streich der „Banalität“ empörte sich der mit tausend Menschen am Bahnhof wartende Großschriftsteller Maxim Gorki. Danach folgte ein Teil der Trauergemeinde einer Militärkapelle und wunderte sich über die Marschmusik. Man war dem falschen Sarg gefolgt – denn auch die Überreste eines in der Mongolei gefallenen zaristischen Generals waren just zu dieser Zeit in Moskau angelangt.

Ging so am Ende mal wieder alles schief?

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Eine schöne Frau an einem Flügel, den Kopf herabgesunken auf die Tastatur; da betritt ein etwas älterer Mann den Salon des Landhauses und fragt sie: „Ist was?“ Die Dame antwortet: „Nichts... Ich langweile mich.“ Darauf stecken sich die beiden eine Zigarette an, und das Drama der Neuzeit hat begonnen.

Eine stille Revolution – dieser Anfang des zunächst titellosen, von der Nachwelt dann „Platonow“ benannten ersten großen Theaterstücks von Anton Tschechow, geschrieben als Zwanzigjähriger in den frühen Achtzigern des 19. Jahrhunderts. Ist was? Ist nichts. Nur etwas „Trübsinn, kein Arbeit, dumme Gedanken“, wie die rauchende Dame sagt, die, kaum am Ende ihrer Jugend, schon Witwe ist (eines Generals). Und als der Mann die Hand der Frau ergreift, fragt die Gelangweilte mit einem Anflug von Spott: „Wollen Sie mir den Puls fühlen?“ Der Mann: „Nicht den Puls... Abknutschen will ich sie...“ Doch nach dem Handkuss löst sich der Hauch eines Flirts wieder auf im Zigarettenrauch, man spielt erst mal Schach. Ein wenig matt und gesetzt.

Bevor der Wahnsinn ausbricht oder die Liebe und der Mord, passiert oft lange nichts. Oder scheinbar nichts. Ganz wie im Leben. Aber dieser Zwischenraum, diese Zwischenzeit, die dem Drama und der Literatur zweieinhalbtausend Jahre lang als undramatisch erschienen, erobern sich Tchechows Stücke und Erzählungen mit einer sagenhaften Selbstverständlichkeit. Wie nichts.

Plötzlich betritt der Alltag die Szene, das Trinken, das Rauchen, das Dösen, das beiläufige Gespräch – in dem Worte mal Waffen sind und mal Witze und immer auch Untertöne von etwas noch Ungesagtem, Unerhörtem, Ungeheuerlichem.

Ob am Ende des letzten Tschechow-Stücks ein Kirschgarten fällt – und damit 15 Jahre vor der Russischen Revolution auch schon eine Gesellschaft, eine Kultur zerfällt – oder ob mit einer Saite nur eine Seele reißt: Die meist windstillen Sensationen Tschechows ereignen sich im Auge des Taifuns. Bisweilen zwinkert das Auge auch, vor Lachen, vor Tränen. Oder das Auge schließt sich. Dann versiegen zugleich die Worte. Und das ist Tschechows wohl dramatischste Erfindung: die Stille. Die Szenenanweisung „Pause“, zwischen den Sätzen und Menschen. Sie schürt die Erwartung, die Hoffnung, als banne und beschwöre sie auch die andere Stille. Den Tod.

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Einmal, auf der Geburtstagsfeier der Jüngsten seiner „Drei Schwestern“, lässt Tschechow die Festgesellschaft und uns Zuschauer ein, zwei Minuten lang nur einem Brummkreisel zusehen: dem schnurrig sich um sich selbst drehenden, allmählich kippenden, endlich verstummenden Ding. Ein Spielzeug, ein Spiel-Bild des Lebens und des Endes – zuerst der Kindheit.

In diesen banal-poetischen Vorgängen und Gegenständen des Alltags eine Welt zu fassen, ist die Erfindung der Moderne. Da geht Tschechow, der 1904 mit 44 Jahren starb, dem Film, der Popmusik, der Bildenden Kunst voraus. Hier ist er „der Größte überhaupt“, wie Woody Allen schwärmt, zumal er nicht nur für ihn wie kaum ein anderer Komik, Melancholie und Tragik in eins verwebt. Samuel Beckett, dessen clowneske, philosophisch alltägliche Zeitvertreib-Todvertreib-Spiele, dessen Drama des Lebens als Wartezeit ohne Gott und Godot dem Werk des Russen alles verdankt, sagte über A.T.: „There was never a smile like his.“

Das Ende der Kindheit ist immer der erste Tod. Die „Drei Schwestern“ im Zeichen des Brummkreisels zeigen die lebendigsten Todgeweihten. Die lebendigsten, denn ihre Sehnsucht, dem nutzlosen Provinzleben in Russland „nach Moskau!“ zu entkommen, überdauert. Trostlos, aber nicht untröstlich, wie Heinrich Böll einmal über (fast alle) große Literatur gesagt hat. Die „Drei Schwestern“ hat 80 Jahre später der Ost-Berliner Volker Braun in seiner „Übergangsgesellschaft“ fortgeschrieben. Das Stück wurde 1987 zum Vorboten des Endes der DDR. Braun selbst hatte dabei noch nicht geahnt, dass er nicht mehr vom Übergang, sondern vom Untergang erzählte. Auch da war Doktor Tschechow schon seine geniale Spur weiter, als er das absurde, rührende, komisch sehnsüchtige Überleben im vorrevolutionären Russland mit dem tödlichen Scharfblick des Mediziners und selbst bereits mit der Schwindsucht infizierten Dichters beschrieb.

Allerdings hatte der russisch-kosmopolitische Enkel eines Leibeigenen keine eigene politische Botschaft. Er verachtete die bräsigen Großgrundbesitzer so sehr wie die Bomben bastelnden studentischen Revoluzzer. Denn er hasste neben Selbstsucht und Grausamkeit vor allem: Dummheit. Blindheit. Schon mit seinen ersten Kurzgeschichten versuchte er, seine verarmten Eltern und die Geschwister mitzuernähren; seine Gesundheit ruinierte er sich, als er nach Sibirien in die russischen Notstandswüsten und zu den barbarischen Straflagern reiste, um medizinische und soziale Reformen zu befördern und den das Land erschütternden Bericht über „Die Insel Sachalin“ (seinen Archipel Gulag) zu schreiben. Später lebt er seiner Gesundheit wegen zwar den Winter über am Schwarzen Meer, aber auch dort kämpft er nicht nur mit seinen Texten, mit Verlegern, Theaterregisseuren und Kritikern. Tschechow geht in die Choleragebiete, zu heilen und für hygienische Reformen einzutreten.

Der „engagierte Literat und Intellektuelle“, den Sartre später fordert – Tschechow und vor ihm Georg Büchner, gleichfalls Mediziner und Dichter, waren die Ersten. Und dabei nicht nur Seelenärzte.

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„Tschechows Bücher sind traurige Bücher für humorvolle Menschen“, schrieb sein Landsmann Vladimir Nabokov im Exil. Das ist das eine. Und vollends makaber liest sich, wenn der Poet Ossip Mandelstam, einige Jahre später Stalins Gulag-Opfer, über Tschechows angeblich unpolitische Handlungslosigkeit spottet und meint, man müsse den „Drei Schwestern“ nur die Bahnkarten schicken („nach Moskau“), und „das Stück wäre zu Ende“.

Tatsächlich gibt es keine empfindlicheren Diagnosen eines Zeitenwechsels als Tschechows Dramen, die auch das Ende des Staatssozialismus noch mit vorausahnen. Auch wird man kein besseres Stück beispielsweise über die West-Ost-Wende Deutschlands in den letzten 15 Jahren und über die Lähmungen und Ruckversuche der deutschen Reformdebatte finden als eben den „Kirschgarten“ mit den sympathisch romantischen Bewahrern und den vernünftigen Kahlschlägern. Wobei es trotzdem kein Stück „über“ ist.

Ein Dichter schreibt ja nie „über“, sondern erzählt bestenfalls von etwas – das dann jenseits der konkreten Entstehungszeit zum Spiegel, zur Metapher, zur Anspielung auch des Kommenden wird, zum unbewussten Vorauswissen.

Wie aber wusste dieser Mann zwischen zwanzig und am Ende nicht einmal Mitte vierzig so viel von allem Menschenmöglichen? Die Frage durchzieht alle Tschechow-Literatur, seit nunmehr hundert Jahren. Nabokov etwa staunt über Tschechows berühmte Kurzgeschichte „Die Dame mit dem Hündchen“, die nur von der kleinen, später fortgesetzten Ferienaffäre zweier Verheirateter, eines Moskauer Lebemannes mit einer jüngeren Provinzdame, zu erzählen scheint. Nabokov: „Es gibt kein Problem, keinen normalen Höhepunkt, keine Pointe am Ende. Und sie ist eine der größten Geschichten, die je geschrieben wurden.“

Schon wahr. Aber mit wenigen, unauffälligen Sätzen, in denen das Wort Sex natürlich nicht vorkommt, skizziert Tschechow die Essenz des Begehrens, Erfüllens, Verfallens – bis in die dezent schonungslose Beobachtung des Physiologischen ist diese Kurzgeschichte einer Liebe auch eine kurze Geschichte der Liebe. Und bei Tschechow durchzuckt uns immer wieder so unvorhersehbar die entscheidende Kunsterfahrungs-Frage: Woher weiß der Autor das von mir?

Russlands erster Literaturnobelpreisträger Ivan Bunin (1870 – 1953) war Tschechows zehn Jahre jüngerer Freund, Beobachter und Gesprächspartner. Seine Notizen und Erinnerungen zu einer großen Tschechow-Biografie zu vereinen, ist ihm zwar nie gelungen. Doch im September werden in der kleinen Friedenauer Presse in Berlin alle Aufzeichnungen Bunins erstmals auf Deutsch erscheinen: „Cechov. Erinnerungen eines Zeitgenossen“, glänzend übertragen von Brigitte van Kann und kommentiert von Peter Urban, der sonst im Diogenes Verlag die Tschechow-Werkausgabe übersetzt und ediert.

Bunin kann sich Tschechows frappierende Menschenkenntnis nur in der Kombination des künstlerischen Talents mit dem medizinischen Blick erklären. Die Medizin, zitiert er Tschechow selbst, „hat mich vor vielen Fehlern bewahrt, die selbst Tolstoi in der ,Kreuzersonate’ unterlaufen sind.“ Obwohl er in den letzten Jahren wegen seiner Tuberkulose nicht mehr praktizieren konnte, habe er noch in den Pass seiner Lieblingsschauspielerin und späten Ehefrau Olga Knipper den Beruf „Arztfrau“ eintragen lassen.

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Von Olga Knipper, dem Star der Tschechow-Uraufführungen unter Stanislawskis zum Ärger des Autors oft melodramatisierender Regie, glaubte die Nachwelt bisher fast all das über Tschechows letzte Tage und Stunden zu wissen. Anton und Olga waren erst von Moskau zu einem berühmten Lungenfacharzt nach Berlin gefahren, der angesichts Tschechows Zustand nur die Hände über dem Kopf zusammenschlug und den Raum verließ. Man reiste nach einer eintägigen Besichtigung Berlins weiter ins Südbadische, logierte nach zwei Hotelwechseln halbwegs komfortabel in jenem „originellen Kurort“ Badenweiler, dessen „Originalität mir nur noch nicht klargeworden ist“, wie der Moribunde mit seinem ungebrochenen Witz vermerkt. In der Todesnacht, über die viele Schriftsteller – von Nathalie Sarraute bis Raymond Carver – geschrieben haben, soll Tschechow dem Arzt Dr. Schwörer, der zufällig mit einer Moskauerin namens Schiwago verheiratet war, auf Deutsch gesagt haben: „Ich sterbe.“ Dann trank der atemlos Fiebernde in der Julinacht noch ein Glas eisgekühlten Champagner und verschied in Olgas Arm.

Im „Times Literary Supplement“ vom 2. Juli ist nun die Geschichte von „Chekhov’s last moments“ zu lesen. Sie hatte Leo Rabeneck, damals ein russischer Student, der mit seinem kranken Bruder in Badenweiler in einem Nachbarzimmer Tschechows wohnte und von Olga Knipper geweckt worden war, 1958 in einer russischen Emigrantenzeitschrift veröffentlicht. Bis jetzt wurde der Text nie zitiert. Rabeneck, 1972 gestorben, machte offenbar auch die Fotografie Tschechows auf seinem Badenweiler Totenbett. Nur den berühmten Satz „Ich sterbe“ will er nicht gehört haben.

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Ging am Ende dann alles schief? Nein, die letzte Reise im Austern-Waggon hätte Tschechow wohl gefallen. Mit kleinen Tieren, durch die alle Wasser der Meere fließen und in denen manchmal, als ihr Geheimnis, eine Perle wächst. In jener Kühle auch, die der Kopf des Künstlers braucht. Boris Pasternak nannte Tschechow „unsere Antwort auf Flaubert“. Bei Flaubert war jene unbestechlich einfühlende Kälte die impassibilité. Und der russische menschenfreundliche Menschenabgrundbeobachter A. T. sagte laut Bunin einmal: „Zum Schreiben hinsetzen soll man sich, wenn man sich fühlt wie Eis.“

So cool war er, vor hundert Jahren.

ANTON PAWLOWITSCH TSCHECHOW

wurde am 29. Januar 1860 im südostrussischen Taganrog („das reinste Asien“) geboren als Sohn eines verarmten Kaufmanns, der nach einem Bankrott 1876 nach Moskau flieht. Schon 1880 übernimmt der Medizinstudent Anton Tschechow den Unterhalt seiner Familie, vor allem durch den Verkauf humoristischer Kurzgeschichten . Später beginnt er mit Dramoletten und

Stückentwürfen und

veröffentlicht die

sozialgeschichtliche und medizinische Recherche seiner Reise zur Strafgefangeneninsel Sachalin . Im Dezember 1884 spuckte er erstmals Blut: Ausbruch der Tuberkulose.

Tschechow lebt vor allem durch seine Stücke fort. Von der „Möwe“ 1898 bis zum „Kirschgarten“ 1904 wurden sie unter der Regie von Konstantin Stanislawski und in den weiblichen Hauptrollen mit der Schauspielerin Olga Knipper im Moskauer Künstlertheater uraufgeführt und in Stanislawskis Inszenierungen noch jahrzehntelang gespielt. Auf den Proben zur „Möwe“ hatten sich auch Tschechow und Knipper kennengelernt, sie wurden ein Liebes- und Ehepaar – oft halbjährlich getrennt durch Olgas Theaterspiel in Moskau und St. Petersburg, während A.T. wegen seiner Tuberkulose die Winter am Schwarzen Meer verbrachte. Tschechow starb am Morgen des 15. Juli 1904 in Badenweiler.

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