zum Hauptinhalt
Geht’s hier noch nach Rosenthal? Das polnische Niederschlesien nach Krieg, Flucht und Vertreibung.

© Privatarchiv Hoffmann

Flucht und Vertreibung: Wund vor lauter Einsamkeit

Christiane Hoffmann geht den Weg nach, auf dem ihr Vater am Ende des Zweiten Weltkriegs vor der Roten Armee floh.

Unter einem grauen Winterhimmel geht eine Frau auf einer Landstraße. Sie stemmt sich gegen den Wind und weicht den vorbeifahrenden Autos aus. Als ein Gewitter losbricht, duckt sie sich in den Straßengraben. Sie ist erschöpft, die Nacht bricht herein, aber sie geht immer weiter. Als müsse sie gegen etwas angehen. Als wäre sie auf der Flucht.

Das ist das Setting in Christiane Hoffmanns Buch „Alles, was wir nicht erinnern“, mit dem sie für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert war. Es trägt den Untertitel: „Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“. Dieser Weg führte den damals Neunjährigen und seine Mutter von Januar bis März 1945 von ihrem niederschlesischen Heimatort Rosenthal, dem heute polnischen Rózyna, nach Klinghart, jetzt Križovatka nahe der tschechisch-bayerischen Grenze.

[Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters. C.H. Beck Verlag, München 2022. 279 Seiten, 22 €.]

Vorangestellt ist ein Satz von Aleida Assmann: „Flucht ist die letzte und radikalste Entscheidung, die man in einem Leben treffen kann.“ Allerdings ging dem hastigen Aufbruch der Dorfgemeinschaft keine eigene Entscheidung voraus, sondern der Befehl, innerhalb einer Stunde den Ort zu räumen.

Gefährlich nahe Front

Die Front war gefährlich nahegerückt, Granateneinschläge bedrohten Häuser und Menschen. Zunächst war von einer mehrtägigen Evakuierung die Rede, aber die Flucht vor der Roten Armee führte die 300 Rosenthaler immer weiter nach Westen. Erst nach 550 Kilometern kam der Treck zum Stehen.

Gestützt auf Berichte von Zeitzeugen, hat Christiane Hoffmann die damaligen Ereignisse rekonstruiert. Ihr Vater konnte wenig dazu beitragen; nicht einmal die Welt seiner frühen Kindheit schien ihm mehr greifbar. Er habe, vermutet die Autorin, Rosenthal vergessen, weil er sich nicht daran erinnern wollte. An dem neuen Ort, Wedel bei Hamburg, wo die Familie nach diversen Umwegen strandete, wollte er nicht der Flüchtlingsjunge sein, sondern dazugehören. Und so verdrängte er die Schrecken der Vergangenheit und gab sie, wenn auch unbewusst, an seine Tochter weiter.

Seit langem ist bekannt, dass traumatische Erlebnisse vererbt werden. Kinder von Holocaust-Überlebenden leiden oft noch Jahrzehnte später an dem, was ihren Eltern angetan wurde. Erfahrungen wie Krieg und Flucht prägen auch nachfolgende Generationen.

Christiane Hoffmann kann ein Lied davon singen. Die Ängste, die sie als Kind heimsuchten; nächtliche Alpträume, in denen sie auf der Flucht ist oder eilig ihren Koffer packen muss: Es waren die Alpträume ihrer Eltern, die sie trotz der „Sicherheit meiner westdeutschen Siebzigerjahre-Kindheit“ durchlebte. Kein Wunder, dass sie sich schon als Kind auf geradezu obsessive Weise in die Geschichte von Krieg, Flucht und Vertreibung vertiefte.

Schatten der Vergangenheit

Es gibt die Wendung „einer Sache nachgehen“. Christiane Hoffmann nimmt sie wörtlich. Auf den Tag genau 75 Jahre, nachdem die Rosenthaler ihr Dorf verließen, geht sie los. Was sie unterwegs erlebt, beschreibt sie bis ins Detail. Sie erzählt von der Flucht 1945, vom Schicksal der übrigen Familienmitglieder bei Kriegsende, vom eigenen Aufwachsen im Schatten der Vergangenheit und vom Leben und Sterben ihres Vaters, den sie immer wieder anspricht, als wäre der Text ein langer Brief an ihn.

Und sie schildert frühere Besuche in Rózyna bei den polnischen Familien, die 1945 den Hof ihrer Großeltern übernahmen und ihrerseits Vertriebene aus Ostpolen waren. Es sind berührende Szenen einer vorsichtigen Annäherung zu Zeiten des Kalten Krieges. Man spürt all das Trennende zwischen Polen und Deutschen; aber die so freundlichen wie bemühten Versuche, es zu überwinden, sind getragen von gegenseitigem Respekt und einem Verständnis für den Schmerz der anderen.

Um Verständigung geht es der Autorin auch auf ihrer Wanderung. Immer wieder spricht sie Menschen an, erkundigt sich nach der deutschen Vergangenheit der Orte, durch die sie kommt. Das ist nicht immer ergiebig. Spätestens bei dem antisemitischen Geschwätz einer jungen Tschechin, das freilich ebenso gut aus dem Mund einer deutschen Querdenkerin stammen könnte, wünschte man sich reflektiertere Gesprächspartner als die, die der Zufall an den Wegesrand stellt.

Mitunter ist es aufschlussreicher, den Hotelfernseher einzuschalten. Da wird im Januar 2020 in einer russischen Talkshow über den ukrainischen Präsidenten gewettert, der den Hitler-Stalin-Pakt einen verbrecherischen Vertrag totalitärer Regime genannt hat. „Die Talk-Runde“, notiert Hoffmann, „ist außer sich vor Empörung.“

Geschichtskrieg im Osten

Was die Autorin über den „Geschichtskrieg“ im Osten schreibt, liest man nach Putins brutalem Überfall auf die Ukraine mit anderen Augen. Hoffmann, die einige Jahre „FAZ“-Korrespondentin in Moskau war, später beim „Spiegel“ und jetzt Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung ist, erweist sich als hellsichtige Beobachterin, deren Befürchtung, dass „sie gerade dabei sind, den nächsten Krieg vorzubereiten“, beweist, dass man auch schon vor dem 24. Februar nicht völlig ahnungslos sein musste.

So eindrücklich diese Seiten sind, so wenig überzeugend gerät die Erzählung von der Wanderung selbst. Immer wieder wird die physische Anstrengung zum Thema: die Müdigkeit, der Schmerz, den Hoffmann empfindet, während sie „langsam den Verstand verlierend, im Gespräch mit Wind und Bäumen, trotzig und wund vor Einsamkeit“ ihren Weg geht. Diese Inszenierung des eigenen Leidens hinterlässt einen schalen Beigeschmack.

Anders als damals ihr Vater, dem sie in der Erschöpfung nahe zu kommen glaubt, ist sie mit Wanderschuhen und leichtem Gepäck unterwegs. Und vor allem: ohne Todesangst. Einmal fällt das Wort Buße; doch für welche Schuld sollte die 1967 geborene Autorin büßen?

Das Pathos, mit dem Christiane Hoffmann ihre Erzählung immer wieder auflädt, tut dem Text nicht gut. Wenn sie sich von ihren Emotionen mitreißen lässt und das eigene Tun überhöht, entsteht eine historische Unschärfe, die das Anliegen ihres Buches sabotiert, den falschen Geschichtsbildern die ambivalente Wahrheit entgegenzusetzen.

Lebensthema Flucht

Dass die Autorin sich selbst als „Kriegsgefangene“ bezeichnet, weil ihr die Flucht zum Lebensthema wurde und der Krieg sie nicht loslässt, ist unangemessen und auch deshalb nicht nachvollziehbar, da sie 20 Seiten zuvor die fürchterliche Kriegsgefangenschaft ihres Großvaters in einem Lager zwischen Kiew und Charkow schildert. In deutscher Kriegsgefangenschaft starben 3,3 Millionen sowjetischer Soldaten.

Nicht weniger verstörend ist eine Formulierung, zu der Hoffmann greift, als es um die Bemühungen geht, ihren Töchtern die Familiengeschichte nahezubringen. Sie wolle, heißt es da, „diese Herkunft in sie einbrennen wie ein Brandmal“. Einbrennen? Man muss nicht gleich an die Häftlingsnummern im 180 Kilometer von Rosenthal entfernten Auschwitz denken, um von dieser Metaphorik befremdet zu sein.

Ein Zuviel an Emotion schlägt sich auch in mancher historischen Bewertung nieder, etwa wenn es heißt, daß die Vertriebenen bestraft würden „für das, was die Deutschen getan haben“ und „mehr als alle anderen die Leidtragenden des Krieges“ seien. Haben die Vertriebenen mehr gelitten als die Insassen der Konzentrationslager? Und was ist mit jenen Deutschen, die sich nach Kriegsende gleich in der nächsten Diktatur wiederfanden, die zu stürzen ihnen erst 1989 gelang? Von einem Leben in Freiheit und Wohlstand konnten sie 40 Jahre lang nur träumen.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Am Ende ihres Buches beschreibt Christiane Hoffmann ihre Enttäuschung im 2021 eröffneten Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ am Anhalzer Bahnhof in Berlin: „Diese Ausstellung hat Angst, emotional zu werden, sie ist eine Flucht in die Rationalität, als sei der Verstand das beste Mittel, um sich dem Leid zu nähern.“ Sie jedoch suche „etwas, das berührt, das zu Herzen geht“, Trost.

Christiane Hoffmanns Recherche in der eigenen Familiengeschichte enthält viele Seiten, die man mit Gewinn liest, weil sie einem vor Augen führen, was Flucht und Vertreibung für den Einzelnen bedeuten. Die gelegentlich überbordende Rhetorik hätte es nicht gebraucht, um den Leser zu berühren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false