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© La Fève/Sophie Wormser

Folge 175 „Wochniks Wochenende“: Tischnachbarschaften

Und manchmal lohnt es sich doch, die Menschen an Nachbartischen im Café anzusprechen.

Eine Kolumne von Thomas Wochnik

Manchmal ist man im Café nicht allein. Dann sitzt am Nachbartisch, zum Beispiel, ein älterer Herr. Irgendwo kläfft ein Hund oder fällt was um, man schaut gleichzeitig hin, lächelt sich zu. Meistens tauscht man keine Worte aus. Und erfährt nicht, dass dieser ältere Herr, der so freundlich dreinschaut, irgendwann in seinen bislang 90 Lebensjahren zwar Medizin studiert hat, aber nach zwei Jahren im Arztberuf dann doch beschloss, etwas Vernünftiges zu machen und Künstler wurde.

Oder, dass er eines Tages vor Jahrzehnten – wer zählt die schon genau? – mit seiner damaligen Freundin durch die spanische Pampa trampte. An einer Gabelung hieß der Fahrer die beiden plötzlich auszusteigen, weil er irgendwohin habe abbiegen müssen. Und dort, mitten im Nichts, sei am Eingangstor eines Grundstücks ein Herr mit Spazierstock entlang geschlichen, sei dann wohl auf das prächtige rote Haar der Begleiterin aufmerksam geworden und habe das Paar spontan zu sich eingeladen.

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© La Fève/Sophie Wormser

Salvador Dali war sein Name – eben der Dali, dessen zerfließende Uhrenbilder als Nachdrucke heute in jeder zweiten Psychoanalysepraxis hängen, als quasi therapeutische Kunst – aber ist nicht alle Kunst auch irgendwie therapeutisch? Moshe Mendelssohn heißt der Tischnachbar, der erst eine, dann zwei Wochen, am Ende neun Monate bleiben und lernen, aber nach eigener Aussage auch in Dalis Bildern mit dem Pinsel herumfuhrwerken durfte.

Und das ist nur ein halbes seiner bisherigen neunzig Jahre. 1933 in Wladiwostok geboren, nehmen ihn die Eltern 1935 nach Berlin mit. Die Nazis überlebt er in einem Versteck im KZ Dachau, zusammen mit 21 weiteren Kindern. Nach dem Abitur in Israel und Medizinstudium in Tübingen studiert er Kunst, bildet sich in Frankreich zum Offsetdrucker weiter, tingelt um die Welt, nach Nepal, Portugal, Italien, Griechenland, China. Überall macht er Kunst oder Kabarett oder – wieder so ein Nebensatz, über den man stolpert – Ballett.

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© La Fève/Sophie Wormser

Seit dem Jahr 2000 lebt er in Berlin, malt, stellt international aus. Und schaut man sich um im Café La Fève (Karl-Kunger-Straße 58, Alt Treptow), das beste Croissant weit und breit in den Fingern wiegend, werden die Bilder lebendig: teils Kohlezeichnungen, teils Malerei, teils mit dem Nudelholz (nicht der Presse) gemachte Offsetdrucke. Sie alle stammen von Moshe Mendelssohn, dem netten Herrn vom Nachbartisch und erzählen verschiedentlich aus diesem Leben.

Bis Anfang Dezember sollen seine Bilder hier hängen, dann folgt die nächste Künstler:in. Etwa alle zwei Monate wechselt im La Fève die Ausstellung. Vielleicht sitzt dann ja wieder jemand Neues unauffällig am Nachbartisch, über den es sich lohnen könnte, mehr zu erfahren.

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