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Anti-Star: Die Konzerte des russischen Pianisten Grigory Sokolov sind Rituale, sein Spiel trotzt jeder Routine.

© dpa/Horst Ossinger

Grigory Sokolov in Berlin: Jeder Ton ein Kleinod

Seine Konzerte sind Rituale, alle Jahre wieder pilgert die Fangemeinde zu dem russischen Pianisten und Antistar. Auch diesmal wurde sein Purcell-Mozart-Abend in der Philharmonie zum Ereignis.

Manchmal sind es nur eine Handvoll Töne, die zum Ereignis einer ganzen Saison werden können. Mozarts Adagio KV 540, kurz nach Beginn des zweiten Teils. Das Adagio ist jenes harmonisch verwegene Trauerstück in der für Mozart seltenen Tonart h-moll, über das Albert Einstein gesagt hat, es sei eins der am tiefsten empfundenen, verzweifeltsten Werke des Salzburger Genies. Im zweiten Teil gibt es diesen Tonleiterlauf nach oben, gefolgt von derselben Bewegung, nur dass der Weg jetzt in Dreiklangschritten durchmessen wird. Grigory Sokolov spielt den Lauf legato, mit seinem berühmten, anmutig perlenden Anschlag, lindert die Schwermut mit einer Prise Unbekümmertheit. Die anschließende Dreiklangbrechung löst er hingegen in ein weiches Staccato auf, mit hauchfeinen Verzögerungen.

Es ist, als habe da jemand für einen Moment den eigenen Verlust kurz vergessen (Mozarts Vater war gestorben) und der Schmerz schleicht sich unmerklich wieder ins Bewusstsein. Bei der Wiederholung wird es noch schlichter, noch ergreifender: Sokolovs Streben nach dem vollkommenen Spiel wahrt immer ein menschliches Maß.  

70
Konzerte gibt der russische Pianist pro Saison, dabei spielt er immer das gleiche Programm.

Sokolov-Konzerte sind längst Gottesdienste. Alle Jahre wieder pilgert die Fangemeinde zu dem Mann, der längst nur noch Recitals gibt, Studioaufnahmen ebenso ablehnt wie Interviews. Nach Berlin kommt er auf seiner Tournee durch rund 70 Orte mit identischem Programm zuverlässig im Frühling.

Die ausverkaufte Philharmonie, verzweifelte Last-Minute-Karten-Sucher, das gedimmte Licht, die gedrungene Gestalt, die raschen, etwas kauzig absolvierten Auf- und Abtritte, egal wie sehr die Menschen ihm zujubeln, der Verzicht auf jeglichen Applaus vor dem Schluss jedes Konzertteils, die obligatorischen sechs Zugaben (zwei Mal Rameau, Chopins Regentropfen-Prélude und eine Mazurka, Rachmaninow, eine Bach-Bearbeitung): Auch bei der diesjährigen Audienz des russischen Ausnahmepianisten und Anti-Stars ist alles wie immer. Schön, dass es Dinge gibt, die sich nicht ändern.

Noch schöner, dass sich auch an der Beseeltheit von Sokolovs Spiel nichts ändert. Seine nuancierte Anschlagskunst, die frappierende Pedaltechnik, die stupenden Farbmodulationen, er lässt kein bisschen nach. Vor der Pause rafft der mittlerweile 73-Jährige 17 Tasten-Werke von Henry Purcell (die eigentlich fürs Cembalo oder Spinett gedacht sind) zum 35-Minuten-Stück zusammen. Kurze Suitensätze, Tanz- und Volksweisen, die Sokolov derart mit Trillern und Verzierungen versieht, als werde sein Flügel von Kolibris umschwirrt.

Luftiges, duftiges Barock mit sanften Punktierten, aparten Affekten, fein ziselierter Dynamik: Mit Purcell läuft Sokolov sich für Mozart warm, dem h-moll-Adagio geht die ebenfalls harmonisch kühne B-Dur-Sonate KV 333 voraus. Bei der Sonate weitet Sokolov den Klangraum zum imaginären Orchesterspiel mit Soloinstrument, liebkost und zaudert, donnert auch mal los, während das Adagio Streichquartett-Assoziationen weckt.

Und erst die Mikrostrukturen. Bereits Purcell hatte der Pianist nach der Maxime modelliert, dass jeder einzelne Ton ein Kleinod und deshalb mit größtmöglicher Sorgsamkeit zu behandeln ist. Bloß keine Routine: So unveränderlich Sokolovs Konzertrituale, so sehr erklärt sich die verblüffende Elastik seiner Handgelenke und seine nie zur Marotte ausartende Gepflogenheit, die Finger hoch über die Tasten zu heben, aus dem Ansinnen, immer wieder neu anzusetzen, nachzufragen, nachzuhorchen.     

Deshalb die minutiösen Rubati als Widerhaken, deshalb die unentwegt changierenden Stimmungen und besagte hochgehobene Finger – um den Druck beim nächsten Anschlag noch präziser austarieren zu können. Wenn wir Menschen einander so respektvoll begegnen würden wie Grigory Sokolov den Tönen, wir lebten in einer besseren Welt.                  

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