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Tijan Sila im Klagenfurter ORF-Studio bei seiner Lesung.

© Johannes Puch/ORF

Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb: Von unterwältigend bis überragend

Am ersten Lesetag der 48. Tagen der deutschsprachigen Literatur präsentierte sich gleich ein Favorit: Tijan Sila mit einer Erzählung über eine psychisch deformierte, aus Bosnien stammende Familie.

Es faserte an diesem ersten Lesetag des 48. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs am Ende doch etwas aus in der Jurydiskussion. Klaus Kastberger wiederholte, was er schon am Anfang über Christine Koschmieders BRD-Noir-Mode-Wirtschaftswundertext gesagt hatte, (handwerklich gut, historisch korrekt, nur warum jetzt geschrieben?); Mara Delius wiederholte, was Kastberger wiederholt hatte, und Philipp Tingler meinte anschließen zu müssen, sich noch nie wiederholt zu haben, solange er als Juror beim Bachmannpreis diskutiere.

Koschmieders tatsächlich ordentlicher, schön gebauter, den historischen Zeitgeist und dessen Accessoires gut einfangender, aber alles andere als herausragender Text kam dann ganz gut weg bei der Jury, wie letztendlich alle Erzählungen an diesem Tag.

Ein Text aber stach heraus: Tijan Silas „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“, der auch anhebt mit den schlichten, trotzdem umwerfenden Worten: „Meine Mutter wurde am 12. August 2007 verrückt“. Silas Ich-Erzähler wird von seiner Mutter gefragt, wann er „umgedreht“ worden sei, von den Leuten „vom Amt, hier und in Bosnien“.

Große Irritation seinerseits, und dann erzählt er von seiner Mutter und seinem Vater, die während der Kriege aus Jugoslawien flüchten mussten und daran beide psychisch zerbrachen: „Sie gingen Hand in Hand zum Abgrund, doch während meine Mutter unerschrocken, wie sie nun einmal war, sich mit Anlauf hineinstürzte, kroch mein Vater auf allen Vieren zum Schlund.“

Jury von Sila begeistert

Ein bei aller traurigen Ernsthaftigkeit der von Sila geschilderten Vorkommnisse begeisternder, souverän erzählter Text, der auch die Jury durchweg und nahezu ohne Abstriche in Euphorie versetzte. Von „außerordentlich gut“ (Thomas Strässle) über „toll“ (Kastberger) bis „hat mich extrem beeindruckt“ (Mithu Sanyal) reichte die Begeisterungsspanne.

Nur ihn gleich als einen „politischen Text“ (Sanyal) zu adeln, war vorschnell, so wie sich Tingler berechtigterweise daran störte, dass Sila auch den deutschen Rassismus vorführe, weil die Akademiker-Eltern des Textes nach ihrer Flucht nach Deutschland feststellen mussten, „dass ihre kommunistischen Titel hier wertlos waren“. Rassismus?

Man muss jedenfalls kein großer Prophet sein, um sehen zu können, dass Sila mindestens einen der fünf Preise dieses Wettbewerbs bekommt, wenn nicht gleich den Ingeborg-Bachmann-Preis 2024. Dass umso mehr, weil sich zumindest an diesem ersten Lesetag keiner der anderen Texte wirklich aufdrängte.

Schon eher fand man sich gleich am Donnerstagmorgen zwischen zehn und elf Uhr mit Sarah Elenas Müllers Schmerzenstext über eine Frau und ihren drogenkranken Freund in einer oft so typischen Klagenfurt-Text-Wattig-und Pappigkeit wieder.

Viele Familienangelegenheiten

Erstaunlich, wie wohlwollend die Jury Müllers mit „Gebieten“ und „Schwellen“ symbolisch schwer beladenen Text aufnahm, vermutlich beeindruckt von Mara Delius’ Anfangsstatement und ihren Ausführungen darüber, dass sich die ästhetische Theorie von Benjamin bis zu den Poststrukturalisten „ geradezu exzessiv“ mit der Schwelle befasst habe. Der Name von Walter Benjamin fiel noch zweimal. Ansonsten hielt sich die Jury mit Verweisen auf Großliteratur zurück, zumal es mit den Lesungen von Ulrike Haidacher und Jurzok braver und konventioneller wurde.

Hier, bei Haidacher, ein Drei-Generationen-Stück über eine sterbende Frau, ihre Tochter und deren erzählende Enkelin, „Schwestern“; dort, bei Jurczok, ein Sohn, der in „Das Katangakreuz“ von seinen Eltern erzählt: der Vater Münzsammler, die Mutter eine sich unterordnende Klavierspielerin. Hier ein aufgekratzt wirkender, auch so vorgetragener, nichtsdestotrotz sprachlich biederer Text, dort die reine Bedächtigkeit, auch sprachlich.

Philipp Tingler schien sich an diesem Tag in das Wort „unterwältigend“ verliebt zu haben. So schlimm waren Haidachers und Jurzcoks Beiträge nicht, aber eben auch nicht das Gegenteil. Nicht mal der Text von Tijan Sila. Der ist einfach nur sehr gut.

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