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Jan Peter Bremer 

© Andreas Hornoff

Jan Peter Bremers Buch „Nachhausekommen“: Schreiben war die Rettung

Erforschung der eigenen Prosa-Ursprünge und Liebeserklärung an die Eltern: Der Berliner Schriftsteller erzählt von seiner Kindheit in einer Künstlerkolonie.

Von Carsten Otte

Diese Geschichte über ein Familienleben auf dem Lande beginnt mit einer Todesnachricht. Die Mutter des Ich-Erzählers erzählt am Telefon, „T.S. sei gestorben“. Damit setzt sich in Jan Peter Bremers neuem Roman „Nachhausekommen“, in dem die meisten Figuren nur mit ihren Initialen auftauchen, ein erstaunlicher Erinnerungsstrom in Gang. Von kleinen Details wird erzählt, etwa wie T.S. und seine Freunde ständig und ausdrucksstark geraucht haben, es geht aber auch um Grundsätzliches, um längst vergessene Aufreger in der politischen Debatte, um eine sowohl inspirierende als auch bedrückende Kindheit in der Provinz.

Schauplatz des Geschehens ist eine Künstlerkolonie „in einem der abgelegensten Landstriche Westdeutschlands“, nämlich im niedersächsischen Wendland. Zahlreiche Gäste kamen in den 1970er Jahren dort regelmäßig zu Besuch, „größtenteils Schriftsteller und Journalisten“, aber eben auch bildende Künstler wie der Vater des Erzählers. Es handelt sich um einen Freundeskreis, der sich in West-Berlin der 1960er Jahre gefunden hatte und der nun in einem mittelalterlichen Fachwerkschlösschen die eigene Bedeutsamkeit zelebrierte.

Repräsentative Immobilie

Die repräsentative Immobilie war sichtbares Zeichen des wirtschaftlichen Erfolgs; die Werke des Vaters verkauften sich jedenfalls auch nach dem Wegzug aus der Metropole. Der Mann ist so kreativ wie dominant, für den Nachwuchs nur schwer zugänglich, aber dennoch kein Eigenbrötler, sondern der charismatische Kopf einer Künstlervereinigung, die im Schlösschen nicht nur zum Rauchen und Parlieren, sondern auch zum Arbeiten zusammenkommt.

Der Sohn liebt es, den Gesprächen der meist bärtigen Gäste zu lauschen, vor allem wenn sie während des gemeinsamen Malens über ihre Berliner Vergangenheit sprechen. Die erscheint dem Kleinen „so wild und frei, so verrückt und verzaubert, dass ich mir Berlin darum wie eine Traumlandschaft baute, in der die Häuser nach Belieben ihre Plätze wechselten und die Bürgersteige durch sie hindurchführten und man von Menschen angesprochen wurde, die, wenn sie nicht sowieso auf dem Kopf standen, unmöglich schief an der Wand lehnten.“

Mit solchen Formulierungen markiert Jan-Peter Bremer den Erzählgrund für seinen dezidiert autobiografischen Roman, geht es ihm nämlich weniger um Anekdoten einer ungewöhnlichen Familie, sondern vielmehr um die ästhetischen Ursprünge der eigenen Prosa – und um gesellschaftliche Lehren, die aus dieser Biografie zu ziehen sind. Der 1965 in Berlin geborene Schriftsteller gilt tatsächlich als Ausnahmeerscheinung in der deutschsprachigen Literatur. Seine Texte haben einen zeitlosen Tonfall, sind aber gleichzeitig fest in der Literaturgeschichte verankert.

Mit Kafka und Musil wurden seine schmalen Romane verglichen, und der Clou besteht darin, dass Bremer, ein ehemaliger Realschüler, diese Vergleiche nicht mal fürchten muss. Einige Erfolge hat der Autor zu verzeichnen, auch wenn der große Durchbruch bislang ausblieb: Nach dem Ingeborg-Bachmann-Preis im Jahre 1996 für einen Auszug aus seiner Romanparabel „Der Fürst spricht“, die vom Wahn allmächtiger Herrscher handelt, erhielt Jan Peter Bremer weitere Ehrungen, etwa den Alfred-Döblin-Preis. Mit „Der junge Doktorand“ stand er 2019 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

In diesem Roman ging es um einen Promovenden, der eine Künstlerlegende namens Greilach und dessen Ehefrau in einer umgebauten Mühle besucht. Der gebrechliche Mann scheint sich mit nichts anderem als mit dem seltsamen Gast zu beschäftigen, sehnt er sich doch nach Aufmerksamkeit, die ihm nicht mehr zuteilwird. Der junge Doktorand entpuppt sich leider als Hochstapler, was die ohnehin zerrüttete Ehe der Greilachs auf eine entscheidende Bewährungsprobe stellt. Wer mit dem Autor über das Buch sprach, erhielt eher vage Antworten auf den biografischen Hintergrund der Geschichte. Nun zeigen sich einige Verbindungslinien zu „Nachhausekommen“, und doch entwirft Bremer im neuen Roman ein anderes, betont differenziertes Familienbild.

Maßgeblich ist die literarische Form

Die Mutter wird nun als emotionale und organisierende Kraft in der Ehe beschrieben, der Einfluss des Vaters ist aber auch nicht von der Hand zu weisen. Wenn man sich beispielsweise die Gemälde von Uwe Bremer anschaut, einem Vertreter des fantastischen Realismus, scheint es nahezu zwangsläufig, dass sich der Sohn der skurrilen Literatur verschrieben hat. Dennoch wäre es zu simpel, den Werdegang des Autors nur über die elterliche Prägung zu erklären. Bremer hat vielmehr eine Autofiktion verfasst, die den Sinn aller Autofiktion sowohl für den Schreibenden als auch fürs Publikum befragt.

Maßgeblich ist wie immer bei Bremer die literarische Form. Kannte man ihn vor allem als Verfasser äußerst minimalistischer Prosa, überzeugt dieses Buch durch ein fast schon zauberhaftes Schweben durch die eigene Vergangenheit. Manchmal weiß man gar nicht so genau, wer gerade spricht und ob eine Szene nicht doch schon wieder eine Fiktion des Biografen ist. In diesen Momenten wird das Buch, das viel Zeitkolorit einfängt, erschreckend aktuell, und Bremers mäandernde Sätzen bringen äußerst Doppelbödiges zutage.

So offenbaren die pointierten Urteile der Künstler über die griesgrämigen Dörfler nicht zuletzt den zweifelhaften Hochmut der Zugezogenen: „Die lebten hier wie die Penner im Paradies, und anstatt immer mit dieser beleidigten Fresse herumzulaufen, hätten sie eigentlich ausreichend Grund, sich über jeden Tag, den sie hier sein durften, zu freuen.“

Rührend die Schulgeschichte des Ich-Erzählers, der ständig schlechte Noten kassiert, weil er sich nicht auf den Lernstoff konzentrieren kann und seinen Gedanken lieber in irgendwelchen Traumgeschichten freien Lauf lässt. Er ist natürlich damit auch ein Kind, das das freie Leben der Eltern nachahmt.

Der Junge begreift sich selbst leider als Trottel, und erst als er beginnt, seine grotesken Geschichten auch aufzuschreiben und sowohl der Vater als auch seine Künstlerfreunde beeindruckt sind von den Fähigkeiten des jungen Autors, entwickelt sich ein Selbstbewusstsein, das auch zu besseren Ergebnissen in der Schule führt. Das Schreiben war für Jan Peter Bremer die Rettung.

Eine zentrale Szene handelt von einem Freund, der nicht aufhören konnte, den Beatles-Song „Ob-La-Di, Ob-La-Da“ in Dauerschleife zu hören. Auch sein Vater sei ein Künstler, sagte der Junge und zeigte dann voller Stolz ein abgebrochenes und schrecklich naives Gemälde einer gewöhnlichen Kuh. Statt sich über den Freund lustig zu machen, erkennt der Erzähler im Nachgang sein großes Privileg: „Allein daran, dass ich es nicht nötig hatte, zu erzählen, was mein Vater schon Tolles im Leben vollbracht hatte, ließ sich erkennen, wie sicher ich mir meiner Eltern war und wie fest ich hier auf dem Boden stand. Es war ja immer ein schlechtes Zeichen, wenn Kinder glaubten, ihre Eltern selbst aufwerten zu müssen.“

Deshalb darf das Nachdenken des Autors über seine Familie, insbesondere die literarische Heimkehr in jenen Passagen, die kritisch ausfallen, als Zeichen der Anerkennung und Liebe zu Eltern gelesen werden. Was ein vertrackt schönes Buch.

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