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Europa im Visier. Wladimir Putin im Jahr 2018 beim Besuch eines militärischen Freizeitparks in der Nähe von Moskau.

© Alexei Nikolsky/Sputnik/Reiters

Kolumne Spiegelstrich: Europas Selbstverständnis wird nach dem Ukraine-Krieg ein anderes sein

Unser Kontinent wird in zehn Jahren anders aussehen – wenn es ihn in der Form überhaupt noch gibt. Putin treibt den Westen vor sich her, meint unser Kolumnist.

Jeder Mensch, das schreibt Arno Geiger in einem schönen Satz des mit schönen Sätzen gefüllten Romans „Unter der Drachenwand“, habe mehrfach im Leben die Chance sich zu entscheiden: „ob er schwimmen gehen oder Pläne schmieden will“. Das stimmt so nicht ganz, nicht alle Menschen haben diese Freiheit – der Krieg nimmt sie ihnen, und er wird kommen, auch zur Drachenwand.

Wenn wir Wladimir Putin nach über 130 Kriegstagen sagen hören, dass Russland mit seinem Krieg noch nicht ernsthaft begonnen habe, und wenn wir uns fragen, warum er ein Nachbarland verwüstet und russische Achtzehnjährige zu Mördern macht, ist manches offenkundig.

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Die demokratische Bewegung, die 2014 vom Maidan ausging, war eine Bedrohung für Putin, die NATO-Osterweiterung auch; russischer Revanchismus und die Herabsetzung Fremder kommen hinzu. Ist das aber alles?

Historiker vergleicht Putin mit Hitler

Der Historiker Dan Diner schrieb, in Erinnerung an Texte von Hans Blumenberg, in der „FAZ“ über die „erzwungene Konvergenz von ‚Lebenszeit und Weltzeit'“, und er meinte den alternden Herrscher P., „dessen politischer Zeitplan seiner persönlichen Lebenserwartung untersteht“.

Diner vergleicht Putins krankhafte Verzerrungen „mit der wahnhaften Ungeduld des reichsdeutschen Führers“, gemeint ist Hitler. Und er nennt einen zweiten Grund für Putins Ungeduld: „Zu der zeitlich eng bemessenen Lebensfrist des sterblichen Individuums gesellt sich eine strukturelle: Sie gilt dem voraussehbaren Ende des Bedarfs an fossilen Energieträgern.“

Das Selbstverständnis Europas wird ein anderes sein

Für Putin dürfe die Ukraine nicht länger existieren, „weil sie antirussisch ist“, schreibt Masha Gessen: Die Ukraine habe im 20. Jahrhundert die gleichen Tragödien wie die Sowjetunion erlebt und strebe doch eine eigene Geschichte an, „und dieser Gedanke ist für totalitäre Führer absolut unerträglich“.

Tagesspiegel-Kolumnist Klaus Brinkbäumer.

© Tobias Everke

Gessen emigrierte einst aus Russland und verfasst für den „New Yorker“ Reportagen und Essays. „Was auch immer in fünf oder zehn Jahren sein wird“, sagte Gessen dem österreichischen „Standard“, „es wird eine postukrainische Kriegskonstruktion sein, und die wird vollkommen anders aussehen. Das Selbstverständnis Europas – wenn es ein Europa noch gibt – wird ein anderes sein.“

Ich musste diese Worte nach der Lektüre nachhallen lassen. Wenn es ein Europa noch gibt? Und was will nun Putin? Gessen sagt: „Was Putin wiederherstellen will, ist russische Größe, und russische Größe ist amorph und geografisch uneindeutig.“

Das prägende Ereignis sei der „Große Vaterländische Krieg“, und der Sieg in jenem Zweiten Weltkrieg „war ein Geschenk der Russen an die Welt, die jedoch undankbar war und Russland verraten hat“, so Gessen. „Und zweitens war er ein Mittel, um den Terror der Sowjetunion zu entschuldigen, denn dieser Terror war eben der Preis für die russische Größe.

Wir sollen uns auf die Größe konzentrieren und nicht auf kleine Probleme wie die Gulags. Und drittens gab er Russland das Recht, eine Supermacht zu sein. In alle Ewigkeit. Und die USA haben Russland dieses Recht entrissen.“

Dann ist da noch etwas. Bis heute, das sagen Dan Diner und Masha Gessen, wirke der von den Vereinten Nationen nicht mandatierte Nato-Einsatz gegen Serbien im Jahr 1999 nach. „Die Schlussfolgerung, die Putin daraus gezogen hat, nämlich dass er sich das Recht herausnimmt, Kiew zu bombardieren, war nicht naheliegend“, schreibt Gessen, „aber 1999 war ein Wendepunkt in der Geschichte der postsowjetischen Ära.“

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter.

Klaus Brinkbäumer

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