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Ausbluten lassen. Milo Raus Inszenierung „Lam Gods“ am NTGent zeigt die Schlachtung eines Lamms.

© Michiel Devijver

Kürzungen in flämischer Kulturszene: Das Ende einer Erfolgsgeschichte

Kahlschlag im Paradies: Der international gefeierten flämischen Kulturszene droht die radikalste Kürzung, die eine Region in Kerneuropa erlebt hat.

Künstler und Journalisten sind nicht gerade für Solidarität untereinander bekannt. Deshalb waren sie im letzten November von sich selbst überrascht, als sie massenhaft zu einer Protestveranstaltung in der Brüsseler Innenstadt erschienen. Zweitausend Kultur- und Medienmenschen drängten sich in und vor dem Kulturzentrum Beursschouwburg in unmittelbarer Nähe zur Brüsseler Börse. Was sie zusammenbrachte, war die Ankündigung der radikalsten Kulturkürzung, die eine Region in Kerneuropa seit Jahrzehnten erlebt hat.

Stark betroffen sind davon aber auch die öffentlichen Medien. Flanderns neuer Ministerpräsident Jan Jambon von der moderat nationalistischen N-VA, der auch das Kulturressort an sich gezogen hat, hatte angekündigt, die Etats der Theaterhäuser um 3 bis 6 Prozent zu kürzen, die freie Projektförderung aber um 60 Prozent! Das wäre das Ende einer Kulturlandschaft, deren Förderung im europäischen Kontext als beispielhaft angesehen wird.

„Was Flandern in den letzten 40 Jahren in der Kulturpolitik geleistet hat, ist für Europa vorbildlich. Wir müssen kämpfen, um das zu erhalten“, sagt Christophe Slagmuylder, heute Chef der Wiener Festwochen, der zuvor gut zehn Jahre lang mit dem Kunstenfestivaldesarts das wichtigste belgische Festival geleitet hat.

Wie andere international tätige Kuratoren unterzeichnete er einen offenen Brief gegen die Sparpläne. Anne Teresa de Keersmaeker und Ivo van Hove, heute Superstars des internationalen Bühnenbetriebs, mahnten in der Tageszeitung De Standaard „Einst waren wir auch nur Projekte“ – und unterstrichen die Bedeutung der Förderung der freien Künstlerinnen und Künstler.

Auch große Kultur- und Theaterhäuser sind betroffen

Tom Bonte, Chef der Beursschouwburg, erklärt die gegenseitige Abhängigkeit dieser Projektförderung und der Förderung von Institutionen, die zum Beispiel auch sein mit diversen kleinen Bühnen und Ausstellungsräumen ausgestattetes Kulturhaus trägt: „Wir sollen 6 Prozent einsparen, aber die 60-Prozent-Kürzungen sind für die freien Künstlerinnen und Künstler katastrophal, auch für unser Programm, denn wir arbeiten vor allem mit diesem Künstlernachwuchs, er macht 80 Prozent unseres Programms aus.“

Milo Rau, der das NTGent seit gut einem Jahr leitet, spricht von Kahlschlag, der auch sein Haus betreffe, da das Genter Theater zu 60 Prozent Co-Produktionen und Gastspiele aus der freien Kulturförderung im Programm hat. Die Pläne bedeuten für ihn „Kahlschlag der künftigen Klassiker, denn eine Anne Teresa De Keersmaeker, eine Needcompany usw. wird es in 15 Jahren dann nicht mehr geben. Man beendet eine Erfolgsgeschichte.“

Rau argumentiert auch ökonomisch: „Das Verhältnis von öffentlichem Investment und Outcome ist nirgends so gut wie bei der bildenden und der szenischen Kunst; sie machen 12 Prozent der flämischen Einnahmen aus, kosten aber nur ein Prozent der Steuern. Kein anderer Bereich steht so gut da. Flandern hat eigentlich nur Kreativwirtschaft, und die wird jetzt beendet.“

Warum also das ganze? Michael De Cock, künstlerischer Leiter an der Koninklijke Vlaamse Schouwburg, des königlichen flämischen Theaters, nennt es einfach „Revanchismus und Misstrauen der flämischen Nationalisten gegenüber der Kultur“. Viele in der Szene sprechen von Rache dafür, dass die N-VA in der Kultur immer schlecht weggekommen sei. Dabei gilt das nicht generell: Am ohnehin kleinen Haushaltsposten für die freien Projekte will die Politik streichen; das Kulturerbe hingegen will sie besser- stellen.

Nicht die erste Kampagne gegen Bühnenkünste

Schon im Verlauf des Vorjahres hatte es außerdem mehrere auch in der Presse ausgetragene Kampagnen gegen die Bühnenkünste gegeben. Der Cancan eines nackten Tänzers hatte den Konservativen missfallen. Milo Rau geriet in die Schlagzeilen, als er in Vorbereitung seiner Eröffnungsinszenierung „Lam Gods“ am NTGent in einer Anzeige nach ehemaligen IS-Kämpfern für die Mitwirkung auf der Bühne suchte.

Außerdem beklagte man in den Aufführungen der flämischen Bühnenkünstlerinnen und Bühnenkünstler das Fehlen einer zentralen Kategorie: Schönheit. Die Chefin des Berliner HAU, die Belgierin Annemie Vanackere, findet: „Das ist eine Art Kulturkampf. Die Politik attackiert da eine Gruppe von Menschen, die ihr nicht ‚flämisch’ genug ist, die sich nicht genug für den Zusammenhalt in Flandern einsetzt. Da zeigt sich ein sehr konservatives und nationalistisches Bild.“

Die flämische Unabhängigkeit und die Stärkung der flämischen Identität steht ganz klar auf der Agenda der neuen, von der N-VA geführten Regionalregierung, in deren Koalitionsvertrag der Begriff „flämische Identität“ neunzehn Mal auftaucht. „Wir setzen uns klar für die flämische Identität ein. Haben die meisten Flamen nicht dafür gestimmt?“, wird das Büro Jan Jambons zitiert.

Der erklärte Opernliebhaber führt eine Partei, die ein breites rechtes Spektrum abbildet, vom Wirtschaftliberalismus bis hin zu finstersten Bereichen des flämischen Nationalismus. So scheute sich Jambon nicht, vor dem ultra-rechten Sint-Maartensfonds eine Rede zu halten, der Vereinigung der ehemaligen „flämischen Legion“, die ab 1941 an der Seite der deutschen Waffen-SS kämpfte. Die Hoffnung schon damals: Die flämische Unabhängigkeit als Lohn für ihren Einsatz für Nazi-Deutschland, das damals Holland und Belgien besetzt hatte.

Eine große Sorge des liberalen Kultur-Flandern ist derzeit, dass Jambons N-VA nach den Wahlen in vier Jahren eine Koalition mit dem Ultranationalisten Vlaams Belang bilden könnte. Den Separatisten hilft derzeit der Umstand, dass es keine Aussicht auf eine Koalition für die föderale belgische Zentralregierung gibt. Die Wallonen haben links gewählt, die Flamen rechts.

Erneut zu einer Kulturlandschaft mit Vorbildwirkung werden

Eigentlich hätten die Kürzungen seit Anfang des Jahres zu spüren sein müssen, doch es häufen sich Hinweise, dass Jan Jambon in der Frage der Kulturkürzungen zurückrudert. Er habe, so meldeten die flämischen Medien schmunzelnd, zusätzliche 600 000 Euro „gefunden“ und wolle in der ersten Tranche eines gesplitteten Jahresetats 90 Prozent der bewilligten freien Projekte finanzieren. Allerdings gilt das bei zweijährigen Produktionen zunächst nur für das Jahr 2020.

Barbara Van Lindt ist Teil der neuen weiblichen Doppelspitze am Kaaitheater, das im internationalen Gastspielbetrieb eine zentrale Schaltstelle ist. Sie muss den Bewegungsspielraum für ihre Spielzeit unter dem Motto „How to be many“ ausloten. „Ich frage mich, ob es klug ist, die N-VA zu dämonisieren. Von all den Menschen, die unsere Theater besuchen, wählen viele die N-VA.“

Offensichtlich hatte sich Jambon von dem populistischen Angriff auf die Kulturszene versprochen, damit seiner Wahlklientel zu gefallen und musste dann feststellen, dass für die Flamen die Stärkung ihrer Identität kein Widerspruch ist zur Abbildung der gesellschaftlichen Diversität auf ihren Bühnen. Van Lindt setzt auf Lernprozesse bei der NV-A und lehnt eine Polarisierung der gesellschaftlichen Diskurse ab.

Tausende sind in den letzten Wochen aus Solidarität mit ihren Theatern nach Aufführungen auf die Bühne gestiegen, für große Gruppenbilder. Andere haben Kunstwerke aber auch Profilfotos auf Social-Media-Seiten zu 60 Prozent mit gelber Farbe verdeckt, der Farbe der N-VA: Dokumente des Verschwindens in einer Politik des uniformen Denkens und Sparens.

Derzeit ist die flämische Kulturszene in einer Warteposition und Gesprächen mit den neuen Machthabern. Wenn es ihr gelänge, die N-VA geduldig zu „kulturalisieren“, dann wäre es ihr im Europa der autoritären Nationalismen gelungen, erneut zu einer beispielhaften Kulturlandschaft mit Vorbildwirkung zu werden.

Eberhard Spreng

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