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Die 15-jährige Milla (Eliza Scanlen) möchte sich in ihrem kurzen Leben wenigstens ein Mal verlieben. Ausgerechnet in Moses (Toby Wallace).

© X Verleih

„Milla Meets Moses“ im Kino: Scheiß auf den Krebs, ja zum Leben

Shannon Murphys Regiedebüt „Milla Meets Moses“ ist eine schöne Anomalie im Coming-of-Age-Genre.

Milla wird von Moses auf Bahnsteig vier fast umgerannt. „Verdammt! Deine Haare sehen aus wie ein goldener Armreif.“ Moses – Rattenschwanz, fette Augenringe, blutige Fingerknöchel und krakelige Tattoos auf Händen und Gesicht – ist high. Als der 15-Jährigen das Blut aus der Nase und auf die feine weiße Bluse ihrer Schuluniform tropft, zieht er kurz entschlossen sein Hemd aus und presst ihr das stinkende Teil ins Gesicht.

Die Situation könnte fast romantisch sein, wäre da nicht dieser sozialrealistische Touch. „Kannst du mir Geld geben?“, fragt er. Doch Milla (Eliza Scanlen) beharrt auf der romantischen Erfahrung und nimmt den abgerissenen Typen mit nach Hause. Zuvor lässt sie sich von Moses (Toby Wallace) aber noch das lange Haar, das ihr ohnehin bald ausfallen wird, mit einer Pudelschere stutzen.

Die Eltern sind entsetzt über die neue und einige Jahre ältere Bekanntschaft ihrer schwerkranken Tochter. Als der Vater Moses einen Junkie nennt, schnaubt sie nur: „Steck ihn nicht in eine Schublade.“

Das Debüt der australischen Filmemacherin Shannon Murphy, die als Theaterregisseurin begann und auch schon an der Berliner Schaubühne inszeniert hat, will sich seinerseits nicht in eine Schublade stecken lassen. Als Krebs- und Coming-of-Age-Drama ist „Milla Meets Moses“ (im Original „Babyteeth“), der vergangenes Jahr im Venedig-Wettbewerb lief, eine erfrischende „Anomalie“, wie Milla einmal den ungewöhnlichen Umstand nennt, im Teenageralter noch immer einen Milchzahn im Mund zu haben.

Erste Liebe, Abschied und Schmerz

Murphy tut es ihrer Heldin, die wild entschlossen ist, sich in ihr wohl nicht allzu langes Leben hineinzustürzen, gleich. Ihre Geschichte über erste Liebe, Abschied und Schmerz gerät bunt und sprudelnd. Dass dem Film ein Theaterstück zugrunde liegt, sieht man ihm nicht im Entferntesten an, alles ist beweglich und flüssig.

In der ersten Szene fällt ein frisch ausgefallener und noch blutiger Zahn in Slow Motion in ein Wasserglas, Tropfen perlen nach oben, dazu erklingt eine Streicherversion von „Golden Brown“ der Stranglers.

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„Milla Meets Moses“ ist ein durch und durch verschwenderischer Film, manchmal aber auch etwas aufdringlich um gute Laune bemüht. Britische Folk-Balladen reihen sich an australischen Elektro-Pop, amerikanischen Soul und Mozart.

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Candyfarben in Orange, Pink und Rot verbinden sich mit Lichteffekten, die Atmosphäre ist ein softer Sturm und Drang.Hausgehalten wird auch nicht mit prominent ins Bild gesetzten Zwischentiteln, die die Handlung kommentieren: „Schlaflos“, „Übelkeit", "Scheißdrauf", „Romance (Teil 1)“.

Der „Straßenköter“ rettet das brüchige Familiengefüge

Schauplatz von „Milla meets Moses“ ist die im Coming-of-Age-Film beliebte Vorstadt, deren bürgerliche Fassade die depressiven Befindlichkeiten und Neurosen ihrer Bewohnerinnen kaum verbergen können. Normal ist bei Familie Finley schon lange nichts mehr, die Hilflosigkeit angesichts der sterbenden Tochter hat das Paar entfremdet. Mutter Anna (Essie Davis), eine ehemalige Konzertpianistin, hat selbst ein Drogenproblem, ihr Ehemann Henry (Ben Mendelsohn), ein Psychiater, versorgt sie mit mehr Tabletten als ihr gut tut: So muss er keine Gespräche über seine Verlustgefühle führen.

Moses, der von ihnen so verabscheute „Straßenköter“ erweist sich als Bindemittel im brüchigen Familiengefüge. Obwohl er auf der Suche nach Medikamenten ins Haus einbricht, laden sie den Kleindealer in ihrer Verzweiflung ein, bei ihnen zu wohnen. Im Rahmen der sehr ungleichen Beziehung entwickelt sich zwischen Milla und Moses entgegen Sinn und Verstand doch eine große Teenie-Romanze.

Murphys Film hat einen schönen Flow, Millas selbstmitleidlose Art und Moses unberechenbarer und etwas verfilzter Charme tragen die Geschichte. Man kann sich von dieser Fülle aber auch leicht zugetextet fühlen. Spürbar wird das immer dann, wenn Murphy ihre Figur mal nicht über Lebensumarmungen und sensuelle Intensitäten erzählt.

In einer für den Film ungewöhnlich trockenen Szene wird Milla von einer Mitschülerin auf der Toilette gefragt, ob sie sich mal kurz ihre blonde Langhaarperücke ausleihen darf. Das Mädchen posiert vor dem Spiegel und macht zufrieden Selfies, Milla steht daneben, nackt.
In zehn Kinos in Berlin und Potsdam (auch OmU)

Esther Buss

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