zum Hauptinhalt

Kultur: Rebellische Königin

Mit John Cage spielte sie täglich Schach: Die Berliner Pianistin Grete Sultan ist mit 99 Jahren in New York gestorben

Ihre Familie wurde im Dritten Reich fast ausradiert. Grete Sultan aber ließ sich von ihrer Leidenschaft für die Musik nicht abbringen. Adorno entdeckte in ihr „eine merkwürdig expressive, rebellische Pianistin, die in jedem Betracht vom herkömmlichen Klavierspiel sich unterscheidet.“ Und die Kritik hat die virtuose Nüchternheit ihrer Interpretationen von Bach, Beethoven und Cage erst vor einigen Jahren wiederentdeckt.

1906 wurde Johanna Margarete „Grete“ Sultan als jüngstes von sieben Kindern in ein großbürgerlich-jüdisches Elternhaus geboren und wuchs am Hubertussee in Berlin-Grunewald auf. Der Vater, Adolf Sultan, besaß eine Spirituosen-Fabrik, die Mutter Coba Sultan, geborene Lewino, entstammte einer hochmusikalischen Familie aus dem Rheinland. Kein Wochenende verging, an dem es nicht Hausmusik bei den Sultans gab. Richard Strauss war ein häufiger Gast, ebenso Ferruccio Busoni und der amerikanische Pianist Richard Buhlig, der Gretes Halbschwester Anni Victorius unterrichtete. Buhlig wurde auch Grete Sultans erster Klavierlehrer und brachte ihr unter anderem die Werke Arnold Schönbergs, Ernst Kreneks, Henry Cowells und Paul Hindemiths nahe. 1922, mit 15 Jahren, besuchte Sultan die Berliner Hochschule für Musik und wurde Schülerin des Russen Leonid Kreutzer. Später setzte sie ihre Studien privat bei Edwin Fischer fort, der sie auf Reisen mit seinem Kammerorchester und zu Soloabenden in die Schweiz einlud. Neben Bachs Goldberg-Variationen standen Beethovens späte Sonaten immer wieder auf ihren Programmen.

Persönlich scheu, „keine Rednerin“, wie sie von sich sagte, veränderte sich ihr Wesen auf der Bühne. „Am Klavier wurde sie zur Königin“, sagt die heute 98-jährige Pianistin Katja Andy. Nach Hitlers Machtergreifung durfte Grete Sultan nur noch in Konzerten des Jüdischen Kulturbundes auftreten. 1936 nahm sich ihr Bruder Wolfgang das Leben, als die Nürnberger Rassegesetze seine Hoffnung auf eine Verlobung mit einer Nichtjüdin zunichte machten. Im Mai 1941 schließlich konnte Grete Sultan mit einem Quotenvisum über Lissabon  nach New York ausreisen. Hier verhalf ihr eine Freundin, die Dichterin und Altphilologin Vera Lachmann, zu einer Anstellung am Vassar College in Poughkeepsie, New York. Im August 1941 starb ihr Vater am Tag der geplanten Ausreise in die Schweiz. Sultans Onkel, der Berliner Chirurg Georg Sultan, nahm sich 1942 das Leben. Ihre Halbschwester Claire Guttsmann wurde 1943 in Auschwitz vergast.

1945, erneut auf Vermittlung Richard Buhligs, lernte Grete Sultan dessen ehemaligen Schüler, den Komponisten John Cage, kennen. Eine lebenslange Freundschaft nahm ihren Anfang. Sultan begann, Cages Werke in ihre Programme aufzunehmen, Cage widmet ihr einige seiner wesentlichen Klavierkompositionen, so 1958 mehrere Teile seiner „Music for Piano“. Mit Cage spielte Sultan auch täglich Schach, bis zu seinem Tod 1992.

1951 nahm sie eine Stellung an der „Master’s School“ in Dobbs Ferry, New York, an, wo sie bis zu ihrer Pensionierung 1971 unterrichtete. 1974 komponierte Cage den Zyklus „Etudes Australes“ und widmete ihn Grete Sultan. Dieses Werk, bestehend aus 32 Etüden, basiert auf Karten des australischen Himmels, dessen Sternverteilung Cage mittels Zufallsoperationen auf vier Notensysteme (zwei für jede Hand) übertrug. Seit 1971 wohnte die Künstlerin im „Westbeth Artists“-Gebäude in Greenwich Village, wo sie, wie ihr ganzes Leben, alleine wohnte.

Ihre letzte große Reise führte sie 1991 zu den Festspielen für Neue Musik in Salzburg und Zürich. Grete Sultan beendete ihre Laufbahn mit einem umjubelten Auftritt in der New Yorker Merkin Hall: 90-jährig spielte sie Bachs Goldberg-Variationen, den Zyklus, der sie ihr Leben lang begleitet hatte. Erst danach erschienen ihre Aufnahmen. Außer den „Etudes Australes“ (Wergo) sind die Alben „Grete Sultan – The Legacy“ Nr. 1 und 2 (Labor Records) erschienen.

Geistig hellwach bis zum letzten Tag, wurde Grete Sultan kurz vor ihrem 99. Geburtstag ins St. Vincent Hospital in Manhattan eingeliefert. Den 99. Geburtstag selbst feierte sie noch mit Freunden. Über den bevorstehenden Tod sprach sie ohne Schrecken. Beim Abschied lächelte sie und winkte ein liebevolles „Bye bye!“.

Der Autor schreibt zurzeit eine Biografie von Grete Sultan.

Moritz von Bredow

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false