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Angelika Klüssendorf.

© Andreas Hornoff

Roman von Angelika Klüssendorf: Der Fluch des Schicksals

Angelika Klüssendorfs Schauerroman „Vierundreißigster September“ fragt sich, was vom Menschen nach seinem Tod übrig bleibt.

Vierzig Jahre war Hilde mit Walter verheiratet. Vierzig Jahre hat sie seine Launen ertragen. Erst als er sterbenskrank ist, verschwindet die „lebenslange Wut“. Walter entwickelt sich zu jenem fast einfühlsamen Mann, den sich Hilde immer gewünscht hat. In der langen Ehe konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, ob „sie überhaupt in ihn verliebt gewesen“ war. Nach der Hochzeit zogen sie in ein ostdeutsches Dorf. Walter arbeitete als „Brigadeleiter für Forstwirtschaft“. Hilde hatte andere Pläne.

Sie schrieb Gedichte und kurze Geschichten, war im „Zirkel schreibender Arbeiter“. Warum aber machte sie nichts aus ihrem literarischen Talent, warum blieb sie all die Jahre bei Walter, der sich nach dem Ende der DDR seinem Frust hingab? Die ernüchternde Antwort: „Sie hatte es einfach nicht fertiggebracht, Nein zu sagen.“

Wenn ein Nachbarsjunge durch einen Motorradunfall den linken Unterschenkel verliert, brummelt Walter ein böses Wutwort in sich hinein: „selbstdranschuld“. Jedes Jahr schenkt er seiner Gattin einen Gummibaum zum Hochzeitstag. „Mittlerweile wuchs ein hässlicher kleiner Wald in ihrem Wohnzimmer“, konstatiert die personale Erzählstimme. Mit amüsantem Sarkasmus beschreibt Angelika Klüssendorf in ihrem Roman „Vierunddreißigster September“ eine Ehehölle, die im Dorf allerdings nicht weiter auffällt, denn es wohnen dort noch andere Leute mit unverständlich wirkenden, aber gleichsam grotesk-konsequenten Biografien.

Etwa ein Kerl namens Eisenalex, von dem es heißt, er können weder lesen noch schreiben und er gehe „zum Scheißen in den Wald“. Eine Idylle war dieses namenlose Dorf nie, aber nun passiert etwas, das selbst die gehässigen Nachbarn verstört. Walter wird ermordet, und Hilde wird verdächtigt, den Schädel ihres Mannes mit einem Beil gespalten zu haben, weil sie kurz nach der Tat vom Erdboden verschwunden ist.

Klüssendorf könnte mit diesem Plot eine klassische Kriminalstory erzählen. Ihr aber geht es vielmehr um die Frage, was vom Menschen bleibt, wenn er sich in einer fortwährenden Lieblosigkeit eingerichtet hat. Parallel zu den Geschehnissen im Dorf verfolgen wir nämlich Walter im Totenreich, der auch nicht so genau weiß, was passiert ist, und erst einmal mit seinem seltsamen Leben nach dem Sterben klarkommen muss. Die Toten verbringen ihre künftige Zeit nämlich weder im Himmelreich noch in einem lodernden Inferno. Sie sind auch nicht zur Passivität verurteilt, sondern verhalten sich so abstoßend wie immer: Ein schlimm eifersüchtiger Kerl, der nur „der schöne Karl“ genannt wird, schleicht „seiner Witwe mit erigiertem Penis hinterher und kaut verbissen an den Fingernägeln“. Unter den Lebenden geht es derweil auch nicht viel erotischer zu. Der Dorfarzt Dr. Kies kann seine Frau nicht mehr riechen, den „Mief ihrer Haut so wenig wie den penetranten Fliederduft ihres Parfums“.

Steven Spielberg hat einen Gastauftritt

Klüssendorf erzählt von „Grobheiten und Demütigungen“, die weder ein lieber noch ein strafender Gott aus der Welt schafft. Nicht einmal der Tod befreit die Menschen von der Schmach des Lebens, und diese Erkenntnis lässt nicht nur den ermordeten Walter schaudern. Zumal er nicht einmal genau weiß, was für ein Scheusal er einst war. Das Dasein nach dem Tod könnte nicht trostloser beschrieben werden.

Viele traurige Gestalten wandeln durch dieses nihilistische Nirwana, wobei bewusst unklar bleibt, wer sich die Regeln in diesem Reich ausgedacht hat. Bekannt ist nur, dass die Toten auch im Nachleben nicht über ihren altbekannten Radius hinausschauen können. „Nun weiß ich endlich, was die Hölle ist – in dem Dorf, das man verlassen wollte, begraben zu sein“, sagt eine Gespensterfrau, die zwar „die Verrückte“ genannt wird, den Fluch ihres Schicksals aber hellsichtig umrissen hat.

[Angelika Klüssendorf: Vierundreißigster September. Roman. Piper Verlag, München 2021. 217 Seiten, 22 €.]

Natürlich kann dieser Roman als deutsch-deutscher Dorfroman gelesen werden, mit skurrilen Figuren und seltsamen Ereignissen, wie einen kurzen Gastauftritt von Steven Spielberg, der die Dorfchronik auch nicht weiter bereichern wird. Unlängst wurde die „Verdorfung“ der deutschsprachigen Prosa beklagt und neben Juli Zeh auch Angelika Klüssendorf erwähnt. Doch diese Reihung ist, vor allem in der etwas schubladenförmigen Reduktion, ein Missverständnis.

Es lauert ein Abgrund hinter der einfachen Grundkonstellation

„Vierunddreißigster September“ ist ein Roman, der schon mit dem Titel aus Denkstrukturen ausbricht. Er ist eher als Zwiegespräch einer radikal neugierigen Autorin mit dem Tod, als poetischer Gegenentwurf zu den bekannten Vorstellungen von Hades und Elysium zu verstehen. Es gehört zur Finesse dieser Literatur, dass hinter der vermeintlich einfachen Grundkonstellation ein Abgrund lauert, der je nach Weltanschauung oder Religion aufatmen oder aufschrecken lässt. Das Buch ist ein postchristliches Werk, in dem die Vorstellung eines (wenn auch wirkungslosen) Gottes nicht verschwunden ist.

Was Angelika Klüssendorf auf inhaltlicher Ebene vollzieht, zeigt sie zudem in ihrer elegant-präzisen Sprache: Die melancholische Lakonie ihrer Sätze kann dazu verleiten, nur die ästhetischen Oberfläche wahrzunehmen, sich von dem wohlig-schaurigen Grundton durch die Seiten treiben zu lassen. Aber bei genauer Lektüre sind Brüche in der Prosa zu erkennen, rhetorische Widerhaken und kuriose Worte, die als Stolpersteine fungieren.

Dass nur der tote Walter in der ersten Person monologisieren darf, ist so paradox wie passend. Der bissige Humor spielt in diesem Gedankenspiel ohnehin eine wesentliche Rolle. Ständig muss man über den Irrwitz sowohl der noch halbwegs vitalen Figuren als auch der im wahrsten Sinne des Wortes Verblichenen lachen. Ihre biografischen Rätsel werden weder aufgelöst noch ergeben sie posthum einen tieferen Sinn. Am Ende schnurrt sich das irdische Leben auf beziehungslose Schlaglichter zusammen, die in einem schwarzen Loch der Worte verschwinden. Wer unter diesen Umständen nicht jede Minute auf der Erde zu genießen weiß, ob im Dorf oder anderswo, ist wirklich „selbstdranschuld“.

Carsten Otte

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