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Angaben: Ausstellungsansichten „Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft. Sammlung der Nationalgalerie 1945-2000“, Neue Nationalgalerie, 18.11.2023-28.9.2025 Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker/VG Bild-Kunst, Bonn 2023 

© Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker/VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Tiefer hängen: Die Kunst der Neuen Nationalgalerie sortiert sich um

Mehr als einen Ausschnitt ihrer Sammlung der Jahre 1945-2000 kann die Institution nicht präsentieren – aber was sie zeigt, ist atemberaubend.

Pablo Picasso macht den Auftakt, natürlich. Die Sammlung der Nationalgalerie sortiert sich neu, doch die Stars bleiben im repräsentativen Entrée. Der kleine Unterschied: Die „Liegende Frau mit Blumenstrauß“ von 1958 hängt nun neben einem Gemälde, das in der DDR entstanden ist. Flankiert werden beide von einer Infotafel über den Sozialistischen Realismus. Und es kommt noch ungewohnter. Linkerhand persifliert Maria Lassnig in ihrem Bild „Patriotische Familie“ (1963) Picassos Frauenideal. Wie im Klammergriff wirkt der erfolgsverwöhnte Künstler, er wird befragt. Auf seinen Einfluss wie auf seine Grenzen. Das Genie bekommt einen Kontext.

Genau wie der Titel der neuen, zwei Jahre währenden Präsentation. „Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft“ heißt es etwas blechern, denn was befindet sich nicht in diesem Spannungsfeld? Es lässt aber aufhorchen, wenn sich die Nationalgalerie aufmacht, um ihre ebenso großartige wie von der Historie des 20. Jahrhunderts bewegte Sammlung auf diese Implikationen hin abzuklopfen. Schließlich gehörte es lange zum Konzept, die Ikonen der jeweiligen Dekaden von ihrer Zeit abzukoppeln – als seien Hauptwerke wie Barnett Newmans „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV“ einfach vom Himmel gefallen.

Das monumentale Querformat hängt nun sichtlich tiefer. Fast stößt es an die Teppichleiste, und zwar auf Wunsch von Newman. Joachim Jäger, stellvertretender Direktor der Neuen Nationalgalerie und einer von drei Kuratoren der Ausstellung, weist darauf hin, dass man sich auch in die Dokumente von Künstlern und Künstlerinnen vertieft habe. Der US-amerikanische Maler bestand auf dem niedrigen „Einstiegsniveau“ seiner Hard-Edge-Bilder – um sie für die Betrachter zu öffnen und den Eindruck zu vermitteln, die leuchtenden Farbfelder wären quasi zu betreten.

Ikonen der Kunstgeschichte müssen ihren Platz teilen

Doch auch Newman muss sich die Aufmerksamkeit nun teilen. Seine neue Nachbarin heißt Carolee Schneemann und verführt mit flimmernden Videomonitoren. Der Blick schweift unwillkürlich ab, und wer das Angebot Franz Erhard Walthers annimmt, in eines seiner gebogenen Stahlbleche zu steigen, die unmittelbar vor dem Gemälde aufgestellt sind, der wendet sich gänzlich ab.

Dieser Schwenk symbolisiert die eindrücklichste Veränderung. „Zerreißprobe“, das gilt für alles hier Verhandelte. Für die kurze und dennoch intensive Epoche zwischen 1945 und 2000, die von der Neuen Nationalgalerie in Bildern, Skulpturen und medialen Installationen abgedeckt wird.

Nachkriegsära, Wirtschaftswunder, Konsumkritik, Deutschlands Teilung und Wiedervereinigung, erste Umweltkatastrophen: All das spiegelt sich in der Kunst und ihren Strömungen. Manchmal direkt wie in den Plakaten von Klaus Staeck, der visionär das Waldsterben, Müllberge oder politischen Gedächtnisverlust thematisiert. Und manchmal subtil. Wenn Wilhelm Lachnit 1948 eine Gliederpuppe an den gedeckten Tisch setzt, manifestiert sich in solchen Motiven die Hilflosigkeit einer Generation, die erlebt, wie wenig sie nach ihren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg nun die Zukunft gestalten kann. Lachnit, Professor an der Kunstakademie Dresden, wurde wegen seines Malstils heftig angegriffen und warf 1954 hin.

Die Schau weckt Interesse an vermeintlichen Nebenwegen

Derart ins Detail kann „Zerreisprobe“ nicht gehen. Die Ausstellung setzt jedoch die Marken, weckt Interesse an den individuellen Gesten, die sich mit Morris Louis, Wols oder Mark Rothko innerhalb der abstrakten Moderne ausbildeten – und dem beharrlich Figurativen, das in der DDR nach dem Formalismusstreit während der 1950er Jahre in den Dienst des sozialistischen Realismus gezwängt wurde. Ein Künstler wie Willi Sitte fand hier seine Bestimmung. Das riesige Gemälde „Leuna“ von 1969 nimmt einen ähnlich großen Raum wie Newmans Abstraktion ein, fordert Konzentration und liefert virtuose Malerei. Sein Sujet aber ist der im Kollektiv aufgehende Arbeiter.

Franz Gertsch: „Barbara und Gaby 3/74“ aus dem Jahr 1974. Das monumentale Gemälde (270 x 420 cm) erwarb die Nationalgalerie im Jahr darauf.

© Staatliche Museen zu Berlin

Dieser Gleichwert im Auftritt zählt zu den Stärken der Neupräsentation, wobei die Rezeption nicht wirklich offenbleibt. Dafür ist einem der modern style des Westens viel zu vertraut und das Brüchige, Tastende eines Francis Bacon oder Alberto Giacometti näher, deren Werke man zuvor passiert hat. „Leuna“ wird außerdem mit Wolfgang Mattheuers „Ausgezeichneter“ (um 1973) konfrontiert, die mit ihrem Blumenstrauß so traurig und ausgezehrt am Tisch sitzt, dass der Mythos vom glücklich Werktätigen unmittelbar zerstiebt. Und doch füllt „Zerreißprobe“ die Lücken, fordert zum eigenen Vergleichen auf und entlässt den Betrachter aus dem Korsett der Kanonisierung. So wie andere progressive Museen auch.

Manches beansprucht wenig Raum und wurde übersehen

Dank Marta Smolinska, wie Maike Steinkamp Kuratorin der umfangreichen Schau, finden schließlich Positionen aus Osteuropa ihren Platz. Etwa Olga Jevric. Ihre „Nichtstatische Komposition“ (1969-1975) steht ebenfalls im Entrée. Sehr prominent und dennoch übersehbar, denn die serbische, 1922 geborene Bildhauerin braucht nicht viel Raum, um sich eindrucksvoll zu artikulieren. So wurde sie auch in den Depots der Sammlung abgelegt und nicht wieder gezeigt. Smolinska trat als externe Expertin an, um die Sammlung nach ihren Kriterien zu durchkämmen.

Die osteuropäische Avantgarde drängt deshalb auch in den Mies-van-der-Rohe-Bau und beansprucht mehr Platz als in Präsentationen zuvor. Ihr Wirken in der Kunstgeschichte vermittelt sich sofort und erweitert den Anteil der Künstlerinnen erheblich. Dafür sorgen ebenso Judit Reigl, Valie Export, Louise Nevelson, Bettina von Armin, Bernadette Bour und Ewa Partum mit ihren feministisch gefärbten Blicken auf die überwiegend männlich geprägte Kunstszene ihrer Dekaden.

Ein diverses Universum. Die drei Kurator:innen fassen es mithilfe von 14 Kapiteln und teilen die Schau in ebenso viele Räume. Begriffe wie „Schlachtfeld Deutschland“, „Natur/Kultur“ oder „Flüchtige Identitäten“ geben Struktur, das titelgebende Video von Günter Brus hat eine eigene Koje namens „Zerreißprobe“ – und eine Warnung vor den körperlichen Deformierungen, die der Wiener Aktionist 1970 an sich vornahm. Das funktioniert, aber nicht immer. So stoßen im sehr prominenten Eckraum „Pop und Propaganda“ zu viele starke, divergierende Werke aufeinander. Auch das letzte Objekt, eine große, schlaffe Handtasche der Künstlerin Cosima von Bonin, wirkt als Schlusspunkt eher schwach. Alles andere aber passt ins neue Bild, das man sich von der Nationalgalerie macht.

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