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Der Tod ihrer älteren Schwester wirft die 16-jährige Lennie (Grace Kaufman) aus der Bahn.

© Apple TV+

„Über mir der Himmel“ im Stream: Radikale Teenagergefühle

Im US-Kino gilt Josephine Decker als hoffnungsvolle neue Stimme. Jetzt hat sie den Jugendroman „Über mir der Himmel“ verfilmt.

Von Andreas Busche

Mit ihrem fünften Spielfilm hat die amerikanische Regisseurin Josephine Decker endlich ihr Ziel erreicht. „Über mir der Himmel“ ist die Verfilmung von Jandy Nelsons gleichnamigem Jugendroman, die Geschichte eines Verlusts und einer ersten Liebe. Elementare menschliche Erfahrungen also, aber so roh und unvermittelt, wie sie eben nur ein Teenager empfinden kann. Lennie (Grace Kaufman) hat ihre Schwester und Verbündete Bailey (Havana Rose Liu) verloren – und verliebt sich in ihrem Gefühlschaos in den Freund der verstorbenen Schwester. Oder vielleicht doch in Joe, den Neuen an der Schule, der die Klarinette fast so perfekt beherrscht wie sie? Teenagergefühle sind kompliziert. Genau darum hat die Regisseurin so lange auf diese Gelegenheit gewartet.

„Ich habe mir mein 16-jähriges Selbst bewahrt“, erzählt sie lachend via Zoom. „Es ist so ein transformatives Alter, alles verändert sich, die Welt bröckelt und setzt sich neu zusammen. Jugendliteratur besitzt eine Verspieltheit, die gleichzeitig klarer und wilder ist als erwachsene Geschichten."

Für Decker, die sich in den vergangenen acht Jahren – seit ihrem Doppeldebüt mit „Butter on the Latch“ und „Thou Wast Mild and Lovely“ – den Ruf einer der aufregendsten und stilistisch eigenwilligsten Filmemacherinnen erworben hat, ist das boomende Genre der „Young Adult“-Literatur nicht unbedingt naheliegend. Aber konsequent. „Ich habe mich für das Filmemachen entschieden, weil ich Kinderfilme drehen wollte“, erzählt sie. Die Initialzündung sei der Pixar-Film „Monsters Inc.“ gewesen, den sie in ihrer Collegezeit sah.

„Über mir der Himmel“ folgt auf ein spektakuläres Doppel, das Josephine Decker endgültig als einen Namen, auf den man zukünftig achten muss, etablierte. Der Coming-of-Age-Film „Madeline’s Madeline“ von 2018 erzählt die Geschichte einer bipolaren 16-Jährigen, gespielt von der Newcomerin Helena Howard, die hin und her gerissen zwischen zwei Mutterfiguren – der Leiterin des Schultheaters und ihrer leiblichen, übergriffig besorgten Mutter – ihre eigene Stimme finden muss. In Deckers radikalem Subjektivismus, inspiriert von experimenteller Performancekunst, verschwimmen die Grenzen von Realität, Fantasie und Theater. „Es fasziniert mich, in die Köpfe meiner Figuren zu gehen, weil es Realitäten ans Licht bringt, die parallel existieren“, sagt die Regisseurin über ein Motiv, das sich durch alle ihre Filme zieht.

Die Grenzen von Realität, Fantasie und Theater

2020 war Decker mit dem fiktional-biografischen Drama „Shirley“ auf der Berlinale in der Reihe Encounters vertreten: eine Art häuslicher Horrorfilm über die Autorin Shirley Jackson. In der Hauptrolle liefert sich eine bravouröse Elizabeth Moss in stiller Verachtung mit ihrem Ehemann ein Duell über den Esstisch hinweg. Das Spiel mit Realität und Traum, instabilen, oft extrem nahen Kameraeinstellungen und obskuren Unschärfen, hat Decker in „Shirley“ perfektioniert, ihr Film entzieht dem Publikum alle Gewissheiten – auch über ihre Protagonistin.

Die Zen-Regisseurin Josephine Decker, geboren 1981, studierte in Princeton.

© imago/ZUMA Press

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„Das Leben, das sich im Kopf abspielt, ist genauso real wie das wahre Leben, durch das du dich bewegst“, zitiert Josephine Decker ihren alten Yoga-Lehrer. Sie konvertierte vor über zehn Jahren zum Buddhismus, aber „Zen“ sind ihre Filme nur insofern, als dass sie sich eine Offenheit in der Wahrnehmung bewahrt haben. „Über mir der Himmel“, vertrieben von Apple, fällt in der Visualisierung der weiblichen Imagination nun deutlich plastischer aus. Die Theatralik von Deckers früheren Filmen findet sich zwar immer noch in den Tagträumen Lennies (ständig wird gesungen oder getanzt), nur verlaufen die Übergänge der Bewusstseinszustände jetzt klarer. Die Macht der Imagination hat ein wenig von ihrer Grenzenlosigkeit eingebüßt.

(Auf AppleTV+)

Wenn Lennie und ihr Schwarm Joe (Jacques Colimon) gemeinsam auf einer Waldwiese liegend über Kopfhörer Musik hören, ploppen um sie herum plötzlich Pflanzen auf wie in Pop-up-Kinderbüchern. Die Natur spielt in „Über mir der Himmel“, wie schon im Debüt „Butter on the Latch“, eine besondere Rolle. Lennie lebt mit ihrer Grandma (Cherry Jones) und ihrem Hippie-Onkel (Jason Segel) in den uralten kalifornischen Redwood-Wäldern. „Die Natur ist unser Schlüssel zur spirituellen Welt“, sagt Decker, aber sie symbolisiere auch den Kreislauf des Lebens. Die eine Liebe stirbt, eine andere Liebe tritt dafür ins Leben.

Für eine Regisseurin, die das Talent besitzt, unbekannte Gesichter zu entdecken, ist das „Young Adult“-Kino das perfekte Genre. Decker verfügt aber auch über einen untrüglichen Blick für die Inszenierung ihrer weiblichen Figuren. Gerade im Jugendfilm finden sich noch viele Stereotypen, junge Frauen dienen zu oft als Projektionsfläche. Decker befreit sie von Erwartungen. „Den Regisseurinnen, die ich schätze, wie Andrea Arnold oder Céline Sciamma, geht es weniger darum, Kontrolle über das Bild auszuüben. Die Figuren müssen aber eine Präsenz im Bild haben“, sagt sie. Einer jungen Schauspielerin kann im Grunde nichts Besseres passieren, als von Josephine Decker entdeckt zu werden.

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