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Kultur: Wenders kam mit dem Reisebus

Die Filmfestspiele Cannes feiern 60. Geburtstag. Volker Schlöndorff ist seit 40 Jahren dabei. Geschichten vom wilden Leben an der Côte d’Azur

Letztes Jahr in Cannes. Wir saßen am Strand der Plage Sportive, bei Salade Niçoise, eisgekühltem Rosé und einem kleinen Strauß Mimosen. Franzosen, Deutsche und ein paar Polen, warteten wir auf das Urteil der Jury. Es kam pünktlich beim Espresso: Goldene Palme für „Die Blechtrommel“, geteilt mit „Apocalypse Now“. Am Vortag noch hatte ich Francis Ford Coppola auf seiner Jacht getroffen. In einen weißen Bademantel gehüllt, ging er mit gebeugtem Oberkörper schweren Schrittes über die Planken, als trage er, einem Herkules gleich, die Weltkugel auf seinen Schultern.

Wer mag ihm diese Verantwortung aufgebürdet haben, fragte ich mich und wusste doch: Das konnte nur er selbst gewesen sein. Moralisch trug er das Kreuz Vietnam für die gesamten Vereinigten Staaten, persönlich trug er ein Risiko von 50 Millionen Dollar. Nur Künstler machen sich so zum Gewissen ihrer Zeit.

Françoise Sagan, die Juryvorsitzende, musste sehr gekämpft haben, um ihm die Hälfte dieses Gewichts, nämlich die Hälfte der schon zugesagten Palme, zu entringen und den kleinen Trommler damit zu schmücken. Entspannt nahmen wir beide am Abend dann unsere halben Palmen entgegen, jeder strahlend wie ein ganzer Sieger.

Aber es kommt mir nur so vor, als sei das letztes Jahr gewesen. Es ist ein Vierteljahrhundert her.

Es ist sogar über vierzig Jahre seit dem ersten Mal in Cannes, mit „Der junge Törless“. Es war die Zeit, als eine Teilnahme in Cannes einem Ritterschlag gleichkam, einem Entrée am Hof der Künste. Heute verschafft es einem weniger Ehre, aber mehr Geld: Das Entrée zum globalen Markt zahlt sich für einen französischen Film allein auf dem heimischen Markt mit 400 000 Euro aus, so hat es mir der Produzent von „Ulzhan“ vorgerechnet, meinem diesjährigen Entrée.

Was früher eine Freude war, eine Fête und ein Treffen unter Freunden – Coppola kannte ich seit 1967, als wir schon einmal konkurriert hatten, er mit „You Are A Big Boy Now“, ich mit „Mord und Totschlag“ –, ist heute zu einer Strapaze geworden, einem Ironman-Lauf durch alle Marketing-Etappen. Es lohnt sich sehr für die Karriere des Einzelnen, aber die Filmkunst bringt es nicht viel weiter. Die Gefahr ist groß, bei der Suche nach Erfolgsrezepten, der Nachahmung von Erfolgreichem, dem Glauben an genormte Dramaturgie, an Marktgesetze und sendefähige Formate das Wichtigste zu vergessen: die Gespräche und Diskussionen, das Schimpfen und Sich-Streiten.

Ich mache also eine Rückblende auf den Mai 1966: Schon die Anreise im VW über die Alpen zu Zeiten, als es noch keine Brenner-Autobahn (ja, wir Münchner fuhren über den Brenner nach Cannes!) und keine Billigflieger gab, hatte etwas von einer Pilgerfahrt. Unbestritten war Cannes in den sechziger Jahren das Heilige Land der Filmkunst; hier und nicht in Hollywood wurden die Weihen verliehen. Es ging auch ausschließlich um Kino; Fernsehen spielte noch keine Rolle. Und in der Deutschen Wochenschau wurde über den jungen deutschen Film berichtet.

Da sich auch die Zahl der Kritiker und Berichterstatter auf ein paar Dutzend beschränkte, hatte man vor und nach der Pressekonferenz tagelang Zeit, mit ihnen zu diskutieren oder sich einfach an den Strand neben Sabine Sinjen zu legen, die Ulrich Schamonis wunderbaren Film „Es“ vertrat, der außer Konkurrenz auf dem Festival lief.

Heute gebe ich gerne zu, dass gerade „Es“ meinem eigenen Anspruch, unsere Filme sollten auch ein Bild unseres Landes abgeben, viel mehr entsprach als meine „hehre“ Literaturadaption. Uli Schamoni schickte in „Es“ ein junges Pärchen nach Westberlin. Sie war schwanger und ging von Arzt zu Arzt, auf der Suche nach einer Abtreibungsmöglichkeit, illegal versteht sich. Ihr Freund arbeitete bei einem Immobilienhai, musste westdeutsche Zahnärzte und andere Anleger am Flughafen Tempelhof abholen und mit ihnen zu Grundstücken entlang der Mauer fahren, wo sie ihr Geld todsicher und steuersparend versenken konnten. Die Ärzte und Anleger im Film waren auch Ärzte und Anleger im realen Leben: Uli Schamoni führte sie schon damals in „Borat“-Manier aufs Eis. Künstlerisch war das nicht sehr wertvoll, lebendig aber ist es heute noch.

Ich will die Verdienste meines „Jungen Törless“, den ich nach allen Regeln der in Paris erlernten Filmkunst und als Hommage an die große Tradition des deutschen Stummfilms gedreht hatte, damit nicht schmälern. Der Augenblick, als ich nach der Pressevorführung den Saal betrat, um das Frage-Antwort- Spiel zu absolvieren, war überwältigend. Langer, nicht enden wollender Applaus – von internationalen Kritikern. Das konnte einem 26-Jährigen schon den Kopf verdrehen. So müssen sich auch Schauspieler bei einer ersten Premiere fühlen: Man tankt Selbstbewusstsein für Jahrzehnte. Und wie muss sich erst Hauptdarsteller Mathieu Carrière gefühlt haben, der gerade mal 16 Jahre alt war – immerhin ein bisschen älter als der zwölfjährige David Bennent ein paar Jahre später am gleichen Ort.

Am gleichen Abend habe ich dann allerdings das eigentliche Ereignis bei der „Törless“-Vorführung im großen Saal verpasst. Mein Freund, Meister und Koproduzent Louis Malle hatte mich, kaum gingen die Saallichter aus, in die Blue-Bar links neben der Treppe entführt. Er hatte schon als 24-Jähriger gemeinsam mit Kommandant Cousteau für „Le Monde du silence“ die Palme erhalten: Das Publikum soll den Film alleine sehen, nicht in Anwesenheit des Regisseurs. Eine Frage des Anstands, außerdem wirkt es eleganter. Also saßen wir bei der Premiere in der Bar.

Erst als wir leicht angeheitert zurückkamen und uns im Dunkeln auf unsere Ehrenplätze schlichen, erfuhren wir von dem „Skandal“. Der deutsche Kulturattaché hatte den Saal unter lautem Protest verlassen. Das sei kein deutscher Film, soll er geschimpft haben. Die Quälereien der Zöglinge schienen ihm ausländische Vorurteile über unseren „deutschen Sadismus“ zu bestätigen. Als dann auch noch eine weiße Maus an die Mauer geklatscht wurde, war es zu viel für ihn.

Herr von Tieschowitz war ein gebildeter, feinsinniger Herr, seine Empörung war nicht etwa gespielt, um meinem Film zu Schlagzeilen zu verhelfen. Jahre zuvor hatte er mich aufgrund meines glänzenden französischen Abiturs zum Mittagessen in die deutsche Botschaft geladen und mir ein Stipendium verschafft. Seine ablehnende Haltung gegen den Film wurde im Übrigen vom Auswärtigen Amt geteilt; Inter Nationes hat „Törless“ damals nicht für die Goethe-Institute erworben. Es herrschte der Geist der Adenauer-Zeit. Der Film galt den Diplomaten als Nestbeschmutzung, Robert Musil gehörte wohl nicht zu ihrer Lektüre.

Ähnlich dachte übrigens Jurymitglied Richard Lester, Regisseur der Beatlesfilme, der wie ich in dem altmodischen Hotel „Gonnet et de la Reine“ wohnte. Beim Frühstück erklärte er mir, die Musil-Verfilmung erinnere ihn an die zerbeulten Autowracks, die man zur Abschreckung an Schnellstraßen aufstellt. „It’s a hard days night ...“, dachte ich und wusste nun, dass auch eine Jury nur Geschmacksfragen erörtert. Mit einem Preis hatte ich angesichts des Triumphs von Claude Lelouchs „Ein Mann und eine Frau“ ohnehin nicht gerechnet

Ein paar Jahre später saß ich neben Kirk Douglas , damals Mitte fünfzig und fit wie ein Gladiator, in der Cannes-Jury und war mit dabei, als im gepflegten Park des schlossartigen Anwesens der Begum bei Champagner um filmkünstlerische Kriterien gerungen wurde. Dabei stand von vornherein fest, wie Karel Reisz vorhergesagt hatte, dass die Palme an „M.A.S.H“ gehen würde, Robert Altmans Film nach der TV-Serie. So konformistisch ging es damals, 1970, in Cannes zu. Kein Wunder, dass ich drei Jahre zuvor mit „Mord und Totschlag“ Aufsehen im Wettbewerb erregt hatte. Nicht nur wegen Anita Pallenbergs Miniröcken, sondern wegen der beiden Rolling Stones, die sie begleiteten. Brian Jones hatte die Filmmusik komponiert, Keith Richards verdrängte ihn gerade von Anitas Seite.

Im Bistro der provençalischen „Mère Besson“ fanden die Hahnenkämpfe statt. Es wurde mehr geraucht und getrunken als gegessen. Nach und nach fielen wir unter die Tische, spielten dort wie die Kinder weiter, und unser Presseattaché Bertrand Tavernier hatte alle Mühe, die Reporter vor der Tür zu halten.

Anita und ihre Stones landeten am nächsten Morgen wegen schlechten Benehmens vor der Tür des Hotels Majestic. Sie flohen nach Marrakesch, wo Keith dann wiederum Brian vor die Tür von Anitas Zimmer im Luxushotel Mamounia setzte. Der sensibelste, vielleicht begabteste und sicher narzisstischste der Stones sollte sich nie ganz erholen von dieser Rivalität, deren ohnmächtiger Zuschauer ich war – und leider nicht der Dritte im edlen Wettstreit.

Jedenfalls war der Auftritt dieser Paradiesvögel schon wegen ihrer fantasievollen Aufmachung ein Kulturschock für die überalterte bürgerliche Klientel in Smoking und langem Abendkleid an der Croisette. Tatsächlich zeigten hier ja die begabtesten Leute aus aller Welt ihre Filme einem Publikum, das hauptsächlich aus diamantenbehängten Witwen, alternden Playboys, Hotelangestellten und deutschen Kinobetreibern mit ihren Gattinnen bestand. Die Witwen waren die Einzigen, die an Karten kamen, bei den deutschen Kinobetreibern war das Festival so beliebt, weil der Aufenthalt sich als steuerlich absetzbarer Urlaub nutzen ließ.

Kein Wunder, dass Antonionis „L’Avventura“ von solchem Publikum ausgepfiffen wurde. Im bewegten Mai ’68 zogen die Regisseure der Nouvelle Vague, darunter Jean-Luc Godard und Louis Malle, ihnen den Vorhang vor der Nase zu. Ein neues Kapitel begann mit der Nebenreihe „Quinzaine des Réalisateurs“. Hier zeigten die Regisseure ihre Filme in kleinem Kreis, begleitet von heftigen Diskussionen über Ästhetik und Politik. Auch der Neue Deutsche Film fand hier erst zu sich.

Werner Herzog war jedes Jahr dabei, Wim Wenders kam mit Reisebus, Reinhard Hauff, Peter Fleischmann, Laurens Straub, Helma Sanders-Brahms, Helke Sander und Margarethe von Trotta diskutierten mit den Kollegen vom Cine-Novo aus Brasilien, den Regisseuren Glauber Rocha und Carlos „Caca“ Diegues, mit den ersten Independents wie Monte Hellman oder mit deutschen Filmkritikern, mit Peter Buchka und Heinz Badewitz.

Auf den Stufen der ehemaligen Villa Malmaison verbrachten wir Tage und Nächte kostengünstiger als sonstwo auf dem immer unbezahlbaren Pflasterstrand. So sollte Kino sein: unmittelbar von unserem Leben erzählend, von der Gesellschaft um uns herum, jeder von seinen Menschen, seiner Stadtlandschaft, seiner Musik. So wie bei der Literatur und der Malerei sollte aus jedem Film ein Autor sprechen. Böswillige interpretierten das als Nabelschau der Autorenfilmer, später wurden diese zehn aufregendsten Jahre oft pauschal diffamiert. Es geht mir aber nicht um Veteranennostalgie. Bei Hans Weingartner, Oskar Roehler oder Fatih Akin spüre ich heute die gleiche Trauer um etwas Verlorenes.

Cannes war damals vor allem ein großes europäisches Festival, und Filme von Fellini, Visconti, Antonioni, von Bunuel, Truffaut und Godard, Ingmar Bergman, Karel Reisz und bald Milos Forman – sie wurden von allen Europäern gesehen. Wir blickten nach Frankreich – und wenn es nur um Brigitte Bardots Bikini ging, um Belmondo und Delon. Wir beneideten die Schweden um ihre Sommernächte mit Monika und das Schweigen der Jungfrauenquelle, die Briten um den Küchenrealismus und den Samstagabend der working classes, Italien um Mastroianni und die Loren, Spanien um die Abgründe des Don Luis.

Fast 20 Prozent der deutschen Zuschauer sahen französische Filme, ebenso viele Franzosen sahen italienische Filme, spanische, skandinavische. Heute haben wir weniger als ein Prozent Marktanteil bei unseren Nachbarn und diese bei uns. Haben wir einander nichts mehr zu sagen? Ist’s die allgemeine Europamüdigkeit? Ziehen wir uns aus Angst vor dem Globalen ins Heimatlich-Vertraute zurück?

Jeder Europäer sieht neben amerikanischen Filmen nur noch einheimische Produktionen. Für den Nachbarn und seine Kultur haben wir keine Zeit mehr. Auch politische Aufrufe können das Schließen der kulturellen Grenzen nicht verhindern, während Wirtschaft und Währungen miteinander verschmelzen. Beim Fernsehen ist es fast noch schlimmer, jedes Land produziert seine eigenen Event-Epen als Zweiteiler, womöglich mit vorausgehender Kinoauswertung eines Zusammenschnitts der Mini-Serie. Film als „The Best of“ von TV-Serien, das spürt jede Generation, kann auf die Dauer das Kino nicht rechtfertigen. Deshalb sind Festivals als Ort des Kinofilms wichtiger denn je. Und Cannes bleibt für mich der Ort, an dem ich mich wohlfühle, froh noch, dabei zu sein after all those years.

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