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Der Regisseur Tian Xiaopeng und sein über tausendköpfiges Team haben 3-D-Animation mit traditioneller chinesischer Xieyi-Tuschmalerei verknüpft.

© Leonine

Wenn der Farbrausch süchtig macht: Das visionäre Animationsabenteuer „Deep Sea“

In einem der erfolgreichsten chinesischen Kinofilme des Jahres muss ein kleines Mädchen seine Mutter finden. Besonders Erwachsene sollten sich diese Traumreise nicht entgehen lassen.

Die Grenze zwischen Realität und Fantasie einzureißen, ist für Kinder Alltagsgeschäft. Fröhlich hüpfen sie hin und her, nehmen mit, was sie reizt und lassen zurück, was sie nicht mehr gebrauchen können. Die kleine Shenxiu allerdings hüpft nicht – sie fällt. Über die Reling eines Kreuzfahrtschiffes, auf das gerade ein Tornado zurast, der das Mädchen an sich reißen will. Shenxiu wehrt sich nicht, im Gegenteil. Ihr Anker in der Realität ist längst auf Erbsengröße eingeschrumpft.

In der Familie, bestehend aus Vater, neuer Frau und Halbbruder, steht sie auf verlorenem Posten, ihre leibliche Mutter hat den Kontakt abgebrochen. Überzeugt, dass es dafür einen geheimen Grund geben muss, erinnert sich das Mädchen an seinem Geburtstag (den der Vater vergessen hat und stattdessen den ersten Kindergartentag seines Sohnes feiert) an eine Geschichte aus glücklicheren Tagen. Eine Kreatur namens Hyjinx empfängt darin ein Kind im Meer und begleitet es zu einer Insel, wo schon die Mutter wartet.

Meerestiere auf Kreuzfahrt

Als das Wesen aus wabernden Haaren und Augen nach dem Sturz in die Fluten tatsächlich vor ihr aufblubbert, ist der Auftrag klar. Ab zu Mama! Doch erstmal verschlägt es die beiden an Bord eines U-Boots, dem fantastischen, von Fischwesen, Walrössern und Ottern bevölkerten Untersee-Pendant zur Kreuzfahrt an der Oberfläche mit ihren unersättlichen Buffetgängern, deren Ansprüche nicht zu ihrem Geldbeutel passen.

Zufriedenstellen soll die All-Inclusive-Meereskunden ein Mensch namens Nanhe, dessen Eifer so groß ist wie sein Schuldenberg. Als selbsternannter Starkoch will er aus dem Hyjinx eine Nudelsuppe zubereiten, die ihn über die Grenzen der Weltmeere berühmt machen soll. Nanhe ist cool und furchterregend zugleich: Er kann seine Zigarette am brennenden Finger entzünden, aber auch zum Choleriker in Killerclown-Optik mutieren, wenn die Dinge nicht nach Plan laufen.

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Durch verzweigte Interessen aneinander gebunden, begeben sich Shenxiu und Nanhe auf eine Odyssee, die visuell dermaßen überwältigt, dass man meint, nach der Vorführung müsste einem die Farbe aus den Ohren herauslaufen. Für ihre Unterwasserwelt haben Regisseur Tian Xiaopeng und sein über tausendköpfiges Team 3-D-Animation mit traditioneller chinesischer Xieyi-Tuschmalerei verknüpft, bei der mit schneller Pinselführung, das Wesen eines Gegenstands abgebildet werden soll. Das Ergebnis ist eine Welt, in der Formen und Farben in einem ebenso ständigen Strom bewegen wie die Emotionen der Helden, die sie durchschreiten.

In Deutschland kommt der Film nur in 2-D ins Kino

In weiten Teilen präsentiert sich „Deep Sea“, der in China zu den erfolgreichen Filmen des Jahres gehört und in Deutschland bei der Berlinale Premiere hatte, als Hayao Miyazakis „Chihiros Reise ins Zauberland“ auf LSD. Inwiefern die dritte Dimension diesen Eindruck noch verstärkt, darüber kann das deutsche Publikum leider erstmal nur mutmaßen, denn der Film kommt hier nur in 2-D auf die Leinwände.

Es geht in „Deep Sea“ um Verlust, Verantwortung und Schuld; unterdrückte Wut mutiert zu einem alles verschlingenden Monster. Durch den – auch erzählerischen – Dauerbombast treten im Mittelteil Erschöpfungserscheinungen auf, doch als es schließlich an der Zeit ist, das Chaos mit all seiner Pracht wie auch der darunter immer brodelnden Gefahr zurückzulassen, trifft die Nüchternheit der echten Welt mit solch großer Wucht ins Mark, dass man sich sogleich zurück in die unheimlich schöne Tiefsee wünscht.

Für Shenxiu wird die Grenzüberschreitung schließlich zu einem existenziellen Kampf – die Heldin und wohl auch so mancher Zuschauer schleppen von der Traumreise so viel emotionalen Ballast mit, dass sie unweigerlich wachsen müssen, um nicht davon erdrückt zu werden. Weltenwandeln will trainiert sein. Aber dafür geht man ja ins Kino.

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