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Come rain, come shine. Nächtliche Szene an einer Pekinger Bushaltestellete (24. 8. 2021).

© AFP / Noel Celis

Global Challenges: Die Zeit für Kalte Kriege ist vorbei

Von der Sowjetunion war der Westen entkoppelt, mit China ist das nicht mehr möglich. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Daron Acemoğlu

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Daron Acemoğlu, Professor für Wirtschaftswissenschaften am Massachusetts Institute of Technology. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Jürgen Trittin, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Das harte Vorgehen der chinesischen Regierung gegen Tech-Konzerne wie Alibaba im vergangenen Jahr oder Didi und Tencent kürzlich heizen Spekulationen an. Manche verstehen die jüngsten regulatorischen Eingriffe in China als Teil eines Trends, der parallel zur verstärkten Überwachung von Big Tech durch die US-Behörden verläuft. Andere sehen darin Maßnahmen zur Kontrolle von Daten, die andernfalls vom Westen instrumentalisiert werden könnten. Und eine plausiblere Einschätzung deutet das Vorgehen als Schuss vor den Bug, der die chinesischen Konzerne daran erinnern soll, dass noch immer die Kommunistische Partei Chinas das Sagen hat.

Die logischste Erklärung ist aber folgende: Die Maßnahmen der chinesischen Regierung sind Teil einer umfassenden Strategie, China von den USA zu entkoppeln – eine Entwicklung mit möglicherweise ernsten globalen Konsequenzen. Obwohl sich die wirtschaftlichen und strategischen Beziehungen zwischen China und den USA schon seit längerer Zeit stetig verschlechtern, hätten wohl die wenigsten geglaubt, dass sich daraus eine geopolitische Konfrontation nach dem Muster des Kalten Kriegs entwickeln könnte. Dafür waren die USA lange zu sehr von China abhängig und beide Volkswirtschaften zu eng verflochten. Jetzt erleben wir vielleicht, wie ein grundlegend anderes Gleichgewicht entsteht.

Der Kalte Krieg war vom Spiel dreier miteinander verknüpfter Kräfte geprägt. Die erste, und vielleicht wichtigste, war der ideologische Wettstreit. Der Westen unter Führung der USA und die Sowjetunion hatten unterschiedliche Vorstellungen von der richtigen Weltordnung und versuchten beide, ihre Vision mit allen Mitteln zu verbreiten.

Kampf um die Führungsrolle

Dann gab es die militärische Dimension, die sich besonders deutlich im atomaren Wettrüsten zeigte. Und beide Blöcke strebten die wissenschaftliche, technologische und wirtschaftliche Führungsrolle an, weil sie wussten, dass diese nötig war, um sich ideologisch und militärisch durchzusetzen.

Obwohl die Sowjets wirtschaftlich weniger erfolgreich waren als die USA, konnten sie anfangs technologisch-militärische Siege für sich verbuchen. Für die USA war der erfolgreiche Start des ersten Sputnik-Satelliten ein Weckruf.

Die offene Rivalität des Kalten Kriegs war zu einem großen Teil auch deshalb möglich, weil die USA und die Sowjetunion entkoppelt waren. US-Investitionen und technologische Durchbrüche gelangten nicht automatisch zu den Sowjets (außer manchmal durch Spionage), wie es in den vergangenen Jahrzehnten bei China der Fall war. Jetzt aber ist aus den Konfliktpunkten zwischen China und den USA, angeheizt durch die widersprüchliche Diplomatie Donald Trumps, eine moderne Entsprechung der Rivalitäten während des Kalten Kriegs geworden.

Die ideologische Kluft, die vor 20 Jahren noch nicht einmal am Horizont zu sehen war, ist inzwischen klar ausgeformt. Der Westen preist die Vorteile der Demokratie (mit all ihren Makeln), und China wirbt voller Selbstvertrauen weltweit für sein autoritäres Modell, besonders in Asien und Afrika.

Gleichzeitig hat China nicht zuletzt im Südchinesischen Meer und in der Straße von Taiwan neue militärische Fronten eröffnet. Und natürlich hat sich in den vergangenen zehn Jahren auch der wirtschaftliche und technologische Wettstreit verschärft. Beide Seiten sind der Überzeugung, dass sie sich in einem existenziellen Wettrennen um die Dominanz im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) befinden. Auch wenn diese Konzentration auf KI vielleicht fehlgeht, ist die Vorherrschaft in den digitalen Technologien, Biowissenschaften, hochmoderner Elektronik und in der Halbleitertechnik ohne Zweifel von entscheidender Bedeutung.

Neue Rivalität

Manche Beobachter begrüßen die neue Rivalität und glauben, durch sie lasse sich der Westen in einem klar definierten gemeinsamen Kampf vereinen. Schließlich brachte der „Sputnik-Schock“ die US-Regierung dazu, in Infrastruktur, Bildung und neue Technologien zu investieren. Eine ähnliche Zielsetzung für das staatliche Handeln heute hätte ihrer Meinung nach viele Vorzüge; tatsächlich hat die Regierung von Joe Biden bereits begonnen, die Investitionsprioritäten der USA am Wettstreit mit China auszurichten.

Es ist richtig, dass viele Erfolge des Westens während des Kalten Kriegs nur möglich waren, weil ihm die Sowjetunion als Gegenbild diente. Das westeuropäische Modell der Sozialdemokratie galt als verträgliche Alternative zum autoritären Sozialismus sowjetischer Prägung. In ähnlicher Weise verdankt das marktwirtschaftliche Wachstum in Südkorea und Taiwan vieles der Bedrohung durch den Kommunismus, die autokratische Regierungen gezwungen hat, auf offene Repressionen zu verzichten, Landreformen einzuleiten und in ihre Bildungssysteme zu investieren.

Trotzdem wären heute die Kosten einer Entkopplung höchstwahrscheinlich wesentlich höher als der potenzielle Nutzen eines neuen Sputnikschocks. In der verflochtenen Welt von heute ist globale Kooperation unverzichtbar. Der Wettstreit mit China mag vielleicht für die weltweite Verteidigung der Demokratie wichtig sein, ist aber nicht die einzige Priorität des Westens. Auch der Klimawandel erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen den USA und China.

Moderne Kommentatoren vernachlässigen außerdem gerne die gewaltigen Kosten des Kalten Kriegs. Wenn der Westen heute als Fürsprecher für Menschenrechte und Demokratie, etwa in Hongkong und China, nicht mehr besonders glaubwürdig ist, liegt das nicht nur an den jahrzehntelangen unseligen Militäreinsätzen im Nahen Osten.

Risiko auf beiden Seiten

In den Jahren, in denen sich die USA in den existenziellen Kampf mit der Sowjetunion verstrickt sahen, stürzten sie demokratisch gewählte Regierungen im Iran (1953) und Guatemala (1954) und unterstützten Diktatoren wie Joseph Mobutu im Kongo und Augusto Pinochet in Chile.

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Ebenso falsch ist die Annahme, der Kalte Krieg habe zu mehr internationaler Stabilität geführt. Im Gegenteil, das atomare Wettrüsten und die Politik des äußersten Risikos auf beiden Seiten ebneten den Weg zu einem Krieg. Die Kubakrise war nicht die einzige Konfrontation, die die USA und die Sowjetunion an den Rand eines offenen Konflikts (und der „garantierten gegenseitigen Zerstörung“) brachte. Auch 1973 während des Jom-Kippur-Kriegs, im Jahr 1983, als das sowjetische Frühwarnsystem irrtümlich den Start einer US-Interkontinentalrakete meldete, und bei anderen Gelegenheiten entging die Welt nur knapp der Katastrophe.

Heute stehen wir vor der Herausforderung, ein Modell der friedlichen Koexistenz zu finden, das einerseits den Wettbewerb zwischen miteinander unvereinbaren Weltbildern und andererseits die Kooperation in geopolitischen Fragen und beim Klimaschutz ermöglicht. Das heißt nicht, dass der Westen Chinas Menschenrechtsverletzungen akzeptieren oder seine Verbündeten in Asien im Stich lassen sollte. Ebenso wenig sollte er sich aber in einem Konflikt nach dem Muster des Kalten Kriegs verfangen.

Daron Acemoglu

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