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© Frank Jansen TSP

1996 von Brandenburger Skinhead schwer verletzt: Orazio Giamblanco hat seinen langen Kampf ums Überleben verloren

Vor 28 Jahren wurde Orazio Giamblanco in Trebbin Opfer eines rechtsextremen Schlägers. Schwer behindert überlebte er. Seine Geschichte berührte viele Menschen. Ein Nachruf.

Von Frank Jansen

Er war dem Tod schon lange näher als dem Leben. Aber er hat sich jahrzehntelang durchgekämpft. Doch jetzt ging es nicht mehr. Orazio Giamblanco, der 1996 im brandenburgischen Trebbin den Angriff eines Skinheads nur knapp und schwer behindert überlebte, ist am späten Montagabend in der Nacht im Alter von 83 Jahren im Klinikum Bielefeld gestorben.

Mitte Mai hatten ihn seine Lebenspartnerin Angelica Stavropolou und deren Tochter Efthimia „Efi“ Berdes wegen schwerer Atemprobleme ins Krankenhaus bringen lassen. „Wir sind sehr traurig“, sagte Angelica am Dienstagabend bei einem kurzen Telefonat.

Bis zuletzt hatten die beiden Frauen ihren Orazio gepflegt. So wie immer nach dem 30. September 1996, als der damalige Neonazi Jan W. eine Baseballkeule gegen den Kopf von Orazio schlug. Und ein weiteres Kapitel des offenbar endlosen Grauens rassistischer Gewalt in der Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands begann. Der Fall Giamblanco ist vielen Leserinnen und Lesern des Tagesspiegels vertraut. Nach den jährlichen Reportagen gingen viele Spenden ein.

Der Überlebenskampf ist zu Ende

Das Leben des Italieners war nach dem brutalen Angriff ruiniert, wie auch das der beiden aus Griechenland stammenden Frauen. Und doch hielten die drei zusammen. Anders hätte Orazio die spastische Lähmung, die schwere Sprachstörung, die ständigen Schmerzen in Kopf und Körper, die Depressionen nicht ausgehalten.

„Habe es schwer…“, murmelte Orazio oft, wenn ich ihn in Bielefeld besuchte, „…immer Schmerzen“. Bei meinem letzten Anruf, kurz vor Ostern, sagte Orazio nur noch, „schlecht… danke schön“. Jetzt haben ihn seine letzten Kräfte verlassen. Der Überlebenskampf eines dauerhaft geschädigten Opfers rechtsextremer Aggression ist zu Ende. Eine Chance auf Heilung gab es nie.

Als ich im April 1997 zum ersten Mal zu Orazio fuhr, meinte ein Arzt, die Lebenserwartung sei nach der lebensgefährlichen Kopfverletzung deutlich reduziert. Orazio war damals 55, ein Alter von über 80 Jahren erschien unvorstellbar. Dass er es dann doch geschafft hat, ist ein Wunder. Die Physiotherapeuten, die Orazio behandelten, waren sich einig: Ohne die häusliche Dauerpflege der heute 73-jährigen Angelica und der Hilfe von Efi, 49 Jahre alt, ohne ihren Einsatz bis zur völligen Erschöpfung, wäre Orazio längst gestorben.

Ich bin für den Tagesspiegel jedes Jahr nach Bielefeld zu Orazio und den beiden Frauen gefahren. Aus den Besuchen entstand eine fast schon familiäre Freundschaft. Die regelmäßige Reportage Ende November oder Anfang Dezember war als Langzeitstudie über ein Opfer rassistischer Gewalt angelegt. Als exemplarische Schilderung der humanitären Folgen rechtsextremer Attacken in der Bundesrepublik.

Seit der Wiedervereinigung haben Neonazis und andere Rechte weit mehr als 10.000 Menschen verletzt. Das geht aus Statistiken der Polizei hervor, die allerdings lückenhaft erscheinen. Mehr als 180 Menschen, das ergaben Recherchen des Tagesspiegels, wurden seit 1990 getötet.

Seit 1997 begleitet unser Autor den schwer behinderten Orazio Giamblanco – hier 2022 mit seinem Physiotherapeuten Tim Lange (M.) und Orazios Lebenspartnerin Angelica Stavropolou.

© Foto: TSP/Frank Jansen

Der Skinhead Jan W., der Orazio am Abend des 30. September 1996 den Baseballschläger gegen den Kopf knallte, nahm den Tod des Italieners in Kauf. Das Landgericht Potsdam verurteilte W. 1997 zu 15 Jahren Haft wegen versuchten Mordes. Dass sich der Täter in der Haft von der rechten Szene löste und den Angriff bedauerte, änderte am lebenslangen Leiden von Orazio nichts. Dennoch verziehen er und die beiden Frauen dem reuigen Jan W., als er sich 2006 in zwei Briefen entschuldigte und sich als „der größte Idiot der Welt“ bezeichnete.

Orazio war im September 1996 mit weiteren Italienern nach Trebbin gekommen, um auf einer Großbaustelle zu arbeiten. Der Aushilfsjob war schon an sich ein biografischer Tiefpunkt. Orazio hatte in Bielefeld eine Pizzeria betrieben, musste aber wegen finanzieller Probleme aufgeben. Der rassistische Angriff machte dann jede Hoffnung zunichte, nochmal ein Leben ohne Qual führen zu können. Das gilt auch für Angelica und Efi. Angelica hat seit dem „Unfall“, wie sie und Efi die Gewalttat nennen, nie wieder gearbeitet. Ihr Alltag war die Betreuung von Orazio. Allein die tägliche Körperpflege für Orazio war für die zierliche Frau ein langwieriger Kraftakt.

Der Schlag mit der Baseballkeule traf die beiden Frauen jeden Tag wieder

Auch Efis Leben geriet aus dem Takt. Um ihrer Mutter helfen zu können, opferte die junge Griechin die Lehre bei einem Friseur. Er hatte kein Verständnis für die Zunahme von Fehlzeiten wegen Efis Einsatz für Orazio. Jahrelang arbeitete Efi dann nicht, schließlich nahm sie einen Job als Produktionshelferin in einer Schokoladenfabrik an. Den Drei-Schicht-Betrieb kombinierte sie bestmöglich mit der häuslichen Hilfe für Orazio.

Beide Frauen waren schon früh am Ende ihrer Kraft. Die Erschöpfung eskalierte zu dauerhaften Depressionen. Und Efis Träume, einen Mann zu finden und eine Familie zu gründen, ließen sich nicht realisieren. Dennoch gaben die beiden Frauen ihren Orazio nie auf. „Wir kämpfen immer“, sagte Efi oft bei meinen Besuchen. Der Schlag mit der Baseballkeule traf auch die beiden Frauen jeden Tag wieder.

Kämpfen mussten sie zudem mit den Tücken der Bürokratie. Ein Versorgungsamt hatte eine „Überzahlung“ geleistet und setzte die drei unter Druck, die AOK Westfalen-Lippe verweigerte Orazio den von seinem Hausarzt empfohlenen Elektrorollstuhl. Auf Anfrage des Tagesspiegels stellte die Sachbearbeiterin der AOK fest, dass sie gar nicht zuständig war. Orazio bekam dann doch den Elektrorollstuhl. Der ihm ein wenig mehr Mobilität in Bielefeld ermöglichte.

Es gab weitere Lichtblicke. Mehrere Physiotherapeuten in Bielefeld bemühten sich im Laufe der Jahre mit viel Engagement, Orazio wenigstens einige Schritte an Gehhilfen ruckeln zu lassen. Zuletzt schaffte es der junge, agile Tim Lange, Orazio wenigstens zum Stehen zu bringen. Mit kraftraubenden gymnastischen Übungen am Treppengeländer im Hausflur vor Orazios Wohnung.

Und dann waren da die vielen Spenden der Leserinnen und Leser des Tagesspiegels. Nach jeder Jahresreportage gingen Orazio, Angelica und Efi aus vielen kleinen und mittleren Einzahlungen größere Beträge zu. Im November 2023 verkaufte sogar ein Berliner in der Sendung „Bares für Rares“ ein kleines Gemälde, um den Erlös – es waren 600 Euro – Orazio zukommen zu lassen. Um die unzähligen Spenden kümmern sich der Potsdamer Verein Opferperspektive und die Stadt Trebbin.

In der Kleinstadt hat sich vor allem der Stadtverordnete Hendrik Bartl bemüht, immer wieder an das Schicksal des Mannes zu erinnern, der in Trebbin beinahe sein Leben verloren hatte. 2009 fuhr Bartl gemeinsam mit Vizebürgermeisterin Ina Schulze und dem damaligen Vorsitzenden des Stadtparlaments, Peter Blohm nach Bielefeld. Die Kommunalpolitiker wurden von Orazio und den beiden Frauen herzlich empfangen – und waren geschockt von der Schwere der Behinderung. „Ich konnte mir das nicht vorstellen“, sagte Blohm.

Im September 2021 wurde der Orazio-Giamblanco-Platz in Trebbin eingeweiht.

© TSP/Frank Jansen

Trebbin hat sich, wenn auch mühsam, gewandelt. Am 30. September 2021, am 25. Jahrestag des Überfalls auf Orazio, enthüllten Bartl, Schulze und weitere Kommunalpolitiker am Tatort das Straßenschild „Orazio-Giamblanco-Platz“. Daneben steht seitdem auch eine Stele, deren Inschriften an die Gewalttat erinnern und zur Achtung der Menschenwürde aufrufen. Orazio und die beiden Frauen wollten zu der Zeremonie kommen, aber es klappte nicht. Das Risiko, dass Orazio bei der langen Fahrt von Bielefeld nach Trebbin kollabiert, war zu groß.

Der 2022 neu gewählte, parteilose Bürgermeister Ronny Haase suchte auch den Kontakt zu Orazio. Mit einer kleinen Geste löste Haase in Bielefeld mehr Freude aus, als er sich vermutlich vorgestellt hatte. Er schickte im Dezember 2022 eine Weihnachtskarte. Orazio und die Frauen waren glücklich, dass der Bürgermeister an sie gedacht hatte. „Orazio hat geweint“, sagte Angelica am Telefon.

Im November 2023 kam Haase dann nach Bielefeld. Er hatte, wie die drei Trebbiner Politiker 14 Jahre zuvor, Tränen in den Augen beim Anblick des schwer behinderten Orazio. Ihm tat jedoch jede Aufmerksamkeit gut. Und darauf hoffen die beiden Frauen auch für die Zeit nach Orazios Tod. Nun doch vergessen zu werden, wäre für sie wie ein weiterer Schlag mit der Baseballkeule.

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