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Oliver Baumann (links) und Nationalmannschaftsdebütant Alexander Nübel sind zwei der vier nominierten Torhüter.

© imago/Matthias Koch/IMAGO/Sebastian Räppold/Matthias Koch

Mit vier Torhütern zur EM: Die revolutionäre Idee des Julian Nagelsmann

Statt drei Torhütern hat Bundestrainer Nagelsmann gleich vier für die Europameisterschaft im eigenen Land nominiert. Welcher Gedanke steckt dahinter?

Als Jürgen Klinsmann vor rund 20 Jahren Bundestrainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft war, war kein Gedanke zu schräg, als dass man ihn nicht hätte denken können. Und dürfen. Einer dieser schrägen Gedanken war, ob man bei einem großen Turnier, in diesem Fall der WM im eigenen Land, wirklich drei Torhüter brauche.

Klinsmann und sein Trainerteam haben vor der Weltmeisterschaft 2006 tatsächlich erwogen, auf einen Torhüter zu verzichten und stattdessen einen 21. Feldspieler für den 23-Mann-Kader zu nominieren. Diese Idee hat damals Bernhard Peters, inoffizieller Berater des Bundestrainers, ins Spiel gebracht. Bei der Hockey-Nationalmannschaft, deren Nationaltrainer er gewesen war, hatte Peters selbst das schon einmal so ähnlich gehandhabt.

Letztlich wurde der Plan verworfen, weil er als zu riskant erachtet wurde. „Sollte sich ein Torwart verletzten, im Training oder in der WM-Vorbereitung, dann brauchen wir einen dritten Torwart“, hat Joachim Löw, Klinsmanns damaliger Assistent und sein späterer Nachfolger als Bundestrainer, wenige Wochen vor der WM im Interview mit dem Tagesspiegel erzählt.

Möglich sei auch, dass ein Keeper im Spiel die Rote Karte sehe, weil er zum Beispiel außerhalb seines Sechzehners eingreifen müsse. „Die Position ist riskant, auch wenn dort relativ selten etwas passiert“, sagte Löw.

Julian Nagelsmann denkt manchmal noch wie ein Vereinstrainer.

© imago/Steve Bauerschmidt/IMAGO/Steve Bauerschmidt

Der Verzicht auf einen dritten Torwart wäre in der Geschichte der großen Turniere einzigartig und damit gewissermaßen revolutionär gewesen. Das gilt nun auch für die Entscheidung von Löws Nach-Nachfolger als Bundestrainer. Julian Nagelsmann geht bei der in knapp zwei Wochen beginnenden Europameisterschaft in Deutschland nicht mit drei, sondern mit vier Torhütern (Manuel Neuer, Marc-André ter Stegen, Oliver Baumann, Alexander Nübel) an den Start. Auch das hat es bisher nicht gegeben.

Dem vorläufigen Kader für das Heim-Turnier gehören 27 Mann – 4 Torhüter und 23 Feldspieler – an, einer mehr also, als bei der Endrunde (14. Juni bis 14. Juli) zulässig ist. Dass Nagelsmann für das Turnier selbst noch einen Torwart streichen würde, das schien daher ausgemachte Sache. Doch dem ist nicht so. „Wir haben vier Torhüter nominiert, wir werden auch mit vier Torhütern in die EM gehen“, erklärte der Bundestrainer bei der Kaderbekanntgabe in der vorvergangenen Woche in Berlin.

Eine Notwendigkeit für diese Maßnahme besteht zumindest auf den ersten Blick nicht. Seit 1934 hat das DFB-Team an 33 großen Turnieren, 20 Welt- und 13-Europameisterschaften, teilgenommen, und noch nie ist dabei ein dritter Torhüter zum Einsatz gekommen.

Jörg Butt war der bisher letzte zweite Torhüter der deutschen Nationalmannschaft, der bei einem großen Turnier zum Einsatz gekommen ist: 2010 im Spiel um Platz drei bei der WM in Südafrika gegen Uruguay.

© imago sportfotodienst

Und die Aussage von Joachim Löw, dass auf dieser Position relativ selten etwas passiere, ist – zumindest für die deutsche Nationalmannschaft – sogar noch schamlos übertrieben. Nie in der deutschen Turniergeschichte war ein Bundes- respektive Reichstrainer gezwungen, auf der Torhüterposition einen Wechsel vorzunehmen.

Lediglich in vergleichsweise unbedeutenden Begegnungen ist Deutschlands Nummer zwei bisher zum Einsatz gekommen. Das war fünfmal das Spiel um WM-Platz drei (1934, 1958, 1970, 2006 und 2010) sowie bei der Weltmeisterschaft 1954 die Vorrundenpartie gegen Ungarn, bei der Bundestrainer Sepp Herberger nicht nur seine Stammspieler schonen, sondern möglicherweise auch den großen Turnierfavoriten ein wenig hinters Licht führen wollte.

Wir brauchen eine gute Anzahl an Torhütern, um auch die Belastung zu steuern.

Bundestrainer Julian Nagelsmann

Der Dortmunder Heinrich Kwiatkowski vertrat Stammtorhüter Toni Turek und kassierte gegen die überragenden Ungarn beim 3:8 acht Tore. Vier Jahre später, im kleinen Finale gegen Frankreich, erging es ihm kaum besser. Bei seinem zweiten und letzten WM-Einsatz verlor das deutsche Team 3:6. Danach bat Kwiatkowski Herberger, ihn nie mehr aufzustellen.

Aber wenn selbst der dritte Torhüter nie und der zweite so gut wie nie benötigt wird, warum dann jetzt sogar vier Torhüter? „Weil ich es einfach als wichtig ansehe, auch Torhüter im Tor zu haben, wenn individuell trainiert wird, wenn Kettenverhalten trainiert wird, wenn Abschlüsse trainiert werden“, sagt Nagelsmann. „Wenn auf einmal 20 Spieler 400 Schüsse abfeuern, ist das relativ belastend.“

Der 36-Jährige ist erst seit dem vergangenen Herbst Bundestrainer, nachdem er zuvor ausschließlich auf Klubebene tätig war. Möglicherweise also denkt Nagelsmann noch stärker in den Kategorien eines Vereinstrainers, als es seine Vorgänger getan haben. Mindestens in Trainingslagern ist es bei Klubmannschaften üblich, dass das Torhüterteam auf vier Mann aufgestockt wird, oftmals mit einem Keeper aus dem eigenen Nachwuchs. „Wir brauchen eine gute Anzahl an Torhütern, um auch die Belastung zu steuern“, findet Nagelsmann.

Derzeit aber ist das nur ein theoretischer Gedanke. Denn in der Praxis kann der Bundestrainer momentan nur über zwei statt vier Torhüter verfügen. Manuel Neuer, die designierte Nummer eins, plagt sich mit einem Magen-Darm-Infekt und wird deshalb erst am Donnerstag im Trainingslager in Blankenhain (Thüringen) erwartet. Und sein Stellvertreter Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona reist erst am kommenden Montag an, wenn die Nationalmannschaft bereits ihr EM-Quartier in Herzogenaurach bezogen haben wird.

Für Oliver Baumann und Alexander Nübel könnten die nächsten Tage also recht belastend werden. Aber das dürfte dann spätestens während des Turniers wieder ganz anders aussehen.

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