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Eine Freundesgruppe trifft sich zum Boßeln auf dem Mauerweg.

© Sönke Matschurek

Von der Kegelbahn in die Natur: Boßeln auf dem Berliner Mauerweg

Als die Kegelbahnen wegen Corona schlossen, ging eine findige Kegelgruppe einfach nach draußen. Ihr Ziel: Wurf für Wurf alle 160 Kilometer des Berliner Mauerweges boßeln.

Was sich die kohlrabigroße Hartgummikugel wohl denken würde, wenn sie wüsste, auf welch geschichtsträchtigen Pfaden sie kullert? Gut möglich, dass sie rund 5000 Mal gerollt wird, bis sie die gesamte Strecke des Mauerwegs zurückgelegt hat, alle 160 Kilometer. Zahllose Male wird sie dabei in der Böschung am Wegesrand verloren gehen. Doch immer werden Else und ihre Freunde sie wieder auflesen – und weiterboßeln.

Boßeln ist eine norddeutsche, in Berlin eher unbekannte Sportart. Dabei versuchen zwei Teams, eine gegebene Strecke mit möglichst wenigen Würfen zurückzulegen. Es rollt immer dasjenige Team, dessen Kugel weiter hinten liegt. Geboßelt wird in Deutschland vor allem in Friesland, im Emsland und in der Region um Oldenburg. „Da gibt’s ja auch nicht viel“, sagt Else erklärend mit Blick auf die Topografie.

Ausgeholt und mit Schwung abgeworfen: Peter schickt die Boßelkugel auf den Weg.

© Sönke Matschurek

Durch Corona kommt die Kegelgruppe zum Boßeln

„Else“ heißt eigentlich Sabine Stratmann. Aber unter Freunden beim Boßeln kennt jeder sie als Else. Und eigentlich war die Gruppe, die sich alle zwei Monate zum Mauerweg-Boßeln trifft, ursprünglich eine Kegeltruppe – bis Corona. Mit der Pandemie schloss ihre Stamm-Kegelbahn Bornholmer Hütte, wo es immer Schmalzbrot und Bouletten gab. Der gesellige Kugelspaß fand – wie so vieles – ein jähes Ende.

„Unangenehme Zeit“, erinnert sich Kaja mit Schaudern. „Man wusste halt nicht, was man machen soll.“ Doch dann kam Olli die Idee mit dem Boßeln, was ja gewissermaßen Kegeln im Freien ist. Zunächst traf sich die Gruppe auf dem Tempelhofer Feld, boßelte dort in der Februarkälte im Kreis. Warm hielt sie nur der mitgebrachte Grünkohl. „Wir haben nur leider regelmäßig den Radfahrern in die Speichen geworfen“, sagt Kaja.

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So entstand die Idee, in Etappen den Berliner Mauerweg abzuboßeln: Stück für Stück alle 160 Kilometer des Fahrradweges, der den Verlauf der Berliner Mauer nachzeichnet. Dank der durchgehenden Asphaltierung und der langen Geraden eignet sich der Radweg hervorragend zum Boßeln. „Und man muss nie diskutieren, wo es lang geht“, sagt Olli und lacht.

Spaziergang im Freien mit Freunden – und Kugel

Die heutige siebte Etappe findet im Berliner Nordwesten statt, im Niemandsland zwischen Henningsdorf und Spandau. Gelegentlich findet man zwischen den Bäumen am Wegesrand Überreste der Grenzbefestigung. Etwas mehr als ein Dutzend Boßler sind aus allen Ecken Berlins mit den Öffis angereist. Als ernsthaften Sport will das Boßeln hier niemand verstanden wissen. Für sie ist es eher ein Anlass, um mit guten Bekannten in der Natur spazieren zu gehen.

Als ambitionierten Sport betreibt Boßeln hier niemand. Eher als Anlass für geselliges Beisammensein in der Natur.

© Sönke Matschurek

„Ein angenehm ambitionsloses Freizeitvergnügen mit Freunden“, sagt Oliver, der eigentlich in der Kulturbranche arbeitet. Sie losen die Teams jedes Mal neu aus – heute ist Oliver im blauen Team. „Und alles ohne die schweißige deutsche Vereinsmeierei“.

Etwas mehr als zehn Kilometer ist die heutige Etappe lang. Der Radweg führt zunächst durch dichten Wald, der sich später lichtet und satten Wiesen Platz macht. In der Nähe eines Sees stehen Bienenkästen im Gras. „Ein ästhetisches Vergnügen“, findet Oliver.

Mit „Grabber“ und „Clicker“

Das Tempo der Gruppe ist gemächlich, die Gespräche untereinander dafür umso angeregter – über Theater, über Architektur, über Heimwerker-Projekte. Sie alle sind um die 50 und aufwärts, stehen mitten im Leben. Else holt zum Wurf aus: Sie lässt den Arm nach hinten schwingen, und lässt ihn dann nach vorn schnellen. Wie beim Kegeln. Die Kugel hopst zunächst einige Male, kommt dann ins Rollen und hält schön die Bahn, bis der Radweg eine Kurve macht und die Kugel im Gebüsch verschwindet. Schwer zu erreichen.

Jeder Wurf ein Click. Doch so richtig ernst nimmt das niemand.

© Sönke Matschurek

Doch Olli hat einen „Grabber“ mitgebracht: eine Art Mini-Kescher am Besenstiel, mit dem man die Kugel wieder aus dem Dickicht fischen kann. Die Anzahl der Würfe hält Antje auf einem „Clicker“ fest – ein Zähler, wie man ihn etwa von Zugbegleitern kennt, die Passagiere zählen. Doch mit dem Zählen nimmt es ehrlicherweise niemand allzu genau. Was zählt, ist die Geselligkeit.

Wie ein Kescher, nur fürs DIckicht: der „Grabber“.

© Sönke Matschurek

Ihre alte Kegelkneipe ist inzwischen wieder geöffnet. Doch Else und ihre Freunde sind nur noch selten dort. „Manchmal war es auch ganz schön, in einer stinkigen Kneipe zu sitzen und zu rauchen“, sagt eine in der Gruppe versonnen. „Aber inzwischen rauche ich nicht mehr.“

Die boßelnden Freunde haben die verrauchte Kegelbahn gegen Radweg und Vogelzwitschern getauscht, das Bier am Abend gegen den Spaziergang am Tag. Sie haben aus Corona das Beste gemacht. Und noch einige Mauerweg-Etappen vor sich.

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