zum Hauptinhalt
Auf dem Plakat ist die Bezeichnung Puschkinstraße durchgestrichen, stattdessen steht Skovoroda.

© Yuriy Gurzhy

Ukrainisches Kriegstagebuch (189): Wie sich Straßennamen ändern

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

26.1.2024
Erneut vergaß ich abends, mein iPhone auf lautlos zu stellen, und wurde durch sein Vibrieren geweckt. Ich warf einen flüchtigen Blick auf den Bildschirm und sah eine WhatsApp-Benachrichtigung von Antuan. Entschlossen, die Nachricht erst zu lesen, wenn ich richtig wach war, versuchte ich, wieder einzuschlafen.

Der Kniff in solch einer Situation besteht darin, möglichst an nichts zu denken, doch es gelang mir nicht. Stattdessen erinnerte ich mich im Halbschlaf an einen warmen Augustabend in Charkiw letztes Jahr. Genau wie bei meinem vorherigen Charkiw-Besuch im Dezember 2022 lud mich Antuan zum Essen bei seiner Mutter ein. In den ersten Wochen des Großen Krieges zogen ihre Freundinnen zu ihr, da der Raketenbeschuss in ihren Bezirken unerträglich geworden war. Eine Zeit lang lebten sie in ihrer Wohnung zu acht und pflegen seitdem die Tradition, jeden Abend um 17 Uhr gemeinsam zu essen.

Ich schlenderte die Puschkinska hinauf, genoss die frische, leicht abgekühlte Luft und grübelte darüber nach, was ich zum Abendessen mitbringen sollte – etwas für den Nachtisch? Oder lieber eine Flasche Wein? Das Bild war so lebendig und klar, dass ich es nicht verdrängen konnte. 

Als ich plötzlich Moshe Moskovitz auf der anderen Straßenseite erblickte, dachte ich zuerst, das kann nicht wahr sein …doch wieso eigentlich nicht? Er hat sich kaum verändert seit den frühen Neunzigern, als ich ihn erstmals in der neueröffneten Synagoge erlebte. Ein amerikanischer Rabbiner war eine schillernde Erscheinung für das postsowjetische Charkiw jener Tage. Zwar hatte ich gehört, er sei der jüdischen Gemeinde der Stadt über all die Jahre treu geblieben, doch die Tatsache, dass er sie selbst unter dem Donnergrollen russischer Bomben nicht verließ, war mir neu. Einige Minuten liefen wir parallel, und ich beobachtete, wie die Menschen ihn grüßten und zwei Passanten ihm respektvoll die Hand reichten…

Einst hieß die Puschkinska Deutsche Straße

Ich erinnerte mich daran, dass ich einmal vom renommierten Reiseführer Maxim Rozenfeld gehört hatte, im 19. Jahrhundert habe es in Charkiw eine deutsche Kolonie gegeben und die Puschkinska hieß damals Deutsche Straße. Dann fiel mir noch die Familienlegende ein, wie mein Großvater meine Großmutter zum ersten Mal vor dem Eingang der Zahnarztschule auf der Puschkinska sah und von ihrer Schönheit überwältigt war. Spätestens bei diesem Gedanken wurde mir klar, dass es mit dem Schlaf wohl nichts mehr werden würde, und ich öffnete Antuans WhatsApp-Nachricht. 

„Hatten gestern einen schweren Unfall auf dem Rückweg von Kramatorsk. Das Auto wurde so schnell aufs Eis geschleudert, dass ich durch die Windschutzscheibe flog und nicht mitbekam, was passiert ist. Bin im Krankenhaus, bei mir wurde ein Schlüsselbeinbruch diagnostiziert, man sagt, ich muss dringend operiert werden.“ Verdammte Scheiße! Ich schrieb sofort zurück und fragte, welche Unterstützung Antuan gerade brauchen könnte. 

Jedes Haus wirkte vertraut

Auf seine Antwort wartend, durchstöberte ich andere neue Nachrichten in meinen Messengern. So erfuhr ich, dass die Puschkinska am vergangenen Abend heftigem Bombardement ausgesetzt war. Innerhalb weniger Stunden wurden meine Instagram- und Facebook-Feeds mit Dutzenden von vor Ort gemachten Bildern und Videos überflutet, auf denen jedes Haus vertraut wirkte. 

Das Gebäude der Nationalen Akademie der Rechtswissenschaften, ursprünglich für den deutschen Kaufmann Heinrich Helferich am Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, wurde direkt von einer russischen Rakete getroffen. Ukrainian Heritage Monitoring Lab spricht vom schlimmsten Beschuss seit dem Beginn der groß angelegten Invasion sowohl hinsichtlich der Anzahl der zerstörten historischen Bauwerke als auch der Todesopfer. 

Im Makers Coffee Shop, weniger als 100 Meter vom Literaturmuseum entfernt, sind nach dem Beschuss alle Fenster zerbrochen, aber der Betrieb läuft weiter, und die Kunden stehen Schlange, um Kaffee zu bestellen. 

Einige meiner Freunde teilen Fotos eines Paars in den Fünfzigern, das beim Angriff in ihrer Wohnung im Schlaf ums Leben kam; viele kannten die Beiden. 

Bei der heutigen Stadtratssitzung stimmten die Abgeordneten der Umbenennung der Puschkinska zu, nun trägt sie den Namen des ukrainischen Philosophen Hryhorij Skoworoda. Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte Charkiws - doch wie so oft in den letzten Jahren war der Preis dafür leider zu hoch.   

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false