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Japans Gewissen. Der Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe.

© imago/Kyodo News/imago

Der groteske Existenzialist: Zum Tod des japanischen Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe

Freund der deutschen Kultur - und von Günter Grass: Im Alter von 88 Jahren ist der bedeutendste japanische Schriftsteller seiner Generation gestorben.

Von Gregor Dotzauer

Kurz vor der Zuerkennung des Nobelpreises im Oktober 1994 wollte er vom Romaneschreiben eigentlich nichts mehr wissen. Kenzaburo Oe erklärte, er wolle künftig neue Formen entwickeln. Sein schwer behinderter Sohn Hikari, 1963 mit einer Gehirnhernie zur Welt gekommen und nur eingeschränkt in der Lage, sich verständlich zu machen, habe als Komponist eine eigene Sprache gefunden. Hikari, dessen zweite CD gerade erschienen war, komme nun ohne seine Stimme aus.

Damit verband sich aber auch der Verlust eines Lebensthemas. Denn ein ganzer Komplex seines bisherigen Werks galt dem schwierigen Glück, sich für den pflegebedürftigen Sohn entschieden zu haben, ja ihm mit einer waghalsigen Operation zum Überleben verholfen zu haben. Oes bekanntester Roman „Eine persönliche Erfahrung“ (1964), der noch von Hass und Selbsthass eines Vaters angesichts eines missgebildeten Neugeborenen erzählt, erzählt davon.

Als er 1995 unter dem Titel „Der atemlose Stern“ den letzten Teil seiner Trilogie „Grüner Baum in Flammen“ veröffentlichte, die christliche Mystik, jüdischen Messianismus und esoterisches Gedankengut zusammenführte, war er thematisch und stilistisch tatsächlich zu anderen Ufern gelangt. Doch Oe, der sich zu jener Zeit gerne tagelangen Spinoza-Lektüren hingab, durfte der Welt weniger denn je entsagen. Jenseits seiner inneren Reisen hielten ihn seine internationalen Verpflichtungen, in deren Rahmen er 1999 auch in Berlin als Samuel-Fischer-Gastprofessor Station machte, auch äußerlich in Atem.

Sinn für christliche Mystik

„In Japan gibt es ein ausgesprochen japanisiertes Christentum“, erklärte er damals beim Gespräch im Wissenschaftskolleg. „Wenn ich Jakob Böhme lese, fühle ich mich davon befreit. Ich habe auch eine Kurzgeschichte geschrieben, die auf Böhme zurückgeht. Übrigens greift auch der Name meines Sohnes Hikari, was so viel wie ,Licht‘ bedeutet, einen Begriff Böhmes auf. Und Gershom Scholem ist besonders mit seinem Buch über Sabbatai Zwi, einen Messias des 17. Jahrhunderts, wichtig für mich.“

Oe, am 31. Januar 1935 auf Shikoku, der kleinsten der vier japanischen Hauptinseln geboren, sah sich stets als Bewohner der Ränder. Auch sein Studium der französischen und englischen Literatur in Tokio betrachtete er als stillen Protest gegen die offizielle, noch von der kaiserlichen Vergangenheit geprägte Kultur. „Als ich anfing, Romane zu schreiben“, erzählte er, „gab es zwei bedeutende Figuren. Die eine war Junichiro Tanizaki, die andere Yukio Mishima. Mishima war ein außergewöhnlicher Schriftsteller, aber ein Mann des Zentrums. Ich war von Anfang an gegen ihn, gegen den Ästheten und den Denker. Zuerst verhielt sich Mishima mir gegenüber freundlich. Aber das änderte sich, als er ultranationalistisch wurde. Ich wollte frei von Mishima und der Tenno-Kultur sein.“

In T. S. Eliots Ringen mit Weltenchaos und spiritueller Ordnung erkannte er einen ihm nahen dichterischen Impetus, in Thomas Manns vielgliedrigen Satzkonstruktionen einen Höhepunkt stilistischer Raffinesse und in Jean-Paul Sartre ein Vorbild für politisch-moralisches Engagement.

Bewunderung für Rabelais

Der frühe Oe, der als 23-Jähriger mit seiner Erzählung „Der Fang“ über die letzten Weltkriegstage in einem japanischen Dorf mit dem Akutagawa-Preis sofort die angesehenste Auszeichnung des Landes erhielt, fühlte sich noch einer Ästhetik des Hässlichen verpflichtet. Sein Sinn für Ekel und Gewalt wich aber zusehends einem Sinn für das Groteske, wie er ihn bei François Rabelais oder Grimmelshausen bewunderte, dem sich auch sein Freund Günter Grass verwandt fühlt. Der Briefwechsel der beiden füllt einen eigenen Band.

Die dehnungsfähige Gattung des Romans, der er mit „Der stumme Schrei“ über die spannungsreiche Öffnung Japans in Richtung Westen 1967 seine vielleicht bedeutendste Leistung hinzufügte, ließ ihn aber nach seinem Religionsprojekt keine Ruhe. Noch mit 70 Jahren war er dabei, eine weitere Trilogie abzuschließen. Was mit „Tagame Tokio-Berlin“ begonnen hatte, einem Roman, der mit Kogito Choko, einem Berliner Gastprofessor mit behindertem Sohn, ein neues Alter Ego entwarf, das dem Selbstmord eines Filmregisseurs nachspürt, in dem Oe seinen berühmten Schwager Juzo Itami porträtiert, sollte mit „Sayonara, meine Bücher“ letzte Worte über die Qualen eines alternden Schriftstellers enthalten.

Die Reihe war damit noch lange nicht zu Ende. 2013 erschien in Japan unter dem Titel „Bannen Yoshikishu – In Late Style“ ein sechster Teil der Kogito-Serie. Der englische Zweittitel nimmt Edward Saids Reflexionen über das Spätwerk von Künstlern auf. Thematisch nimmt sich Oe der dreifachen Katastrophe an, die Japan heimsuchte, als im März 2011 ein Erdbeben, ein Tsunami und die Havarie des Atomkraftwerks in Fukushima das Selbstverständnis der Nation in einem Maße erschütterten, wie es zuletzt nur Hiroshima und Nagasaki getan hatten - ein zweites Lebensthema von Oe.

Ohne jeden fiktionalen Aufwand bündelt „Licht scheint auf mein Dach“ zwei im Original 1995 und 1996 erschienene Bände zu einer „Geschichte meiner Familie“. Das Buch handelt zwar vor allem wieder von seinem Sohn und dessen Aufblühen in der Musik. Hikaris Klavierkompositionen, zu denen sich manchmal eine Flöte gesellt, sind nach handwerklichen Maßstäben dilettantisch, nach ästhetischen naiv, von guten Instrumentalisten interpretiert aber von einer anrührenden Unschuld, die den Vater zu einer seltenen Klarheit des eigenen Ton inspirierte.

Das Buch porträtiert aber auch andere Menschen, die für Oe eine Rolle spielten. Eine Erinnerung gilt Oes Französischprofessor Kazuo Watanabe, der den Humanismus der Renaissance einmal mit den Worten charakterisierte: „Nicht zu viel Verzweiflung, nicht zu viel Hoffnung.“ Das charakterisiert auch treffend Kenzaburo Oes Blick auf die Welt. Am 3. März ist der bedeutendste japanische Schriftsteller seiner Generation im Alter von 88 Jahren in Tokio gestorben.

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