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Voller Verehrung für Robert Walser. Die französische Schriftstellerin Anne Serre.

© AFP/JOEL SAGET

Männermordende Grazien: Anne Serres Roman „Die Gouvernanten“

Mit 30 Jahren Verspätung erreicht ein kleines französisches Meisterwerk die deutschen Leser

Von Gregor Dotzauer

Ein Tor, ein Park, eine Villa irgendwo in Frankreich auf dem Lande. Nur hereinspaziert, könnte man sagen: Hier, im Schatten junger Mädchenblüte, gedeiht das bunte Leben. Tanz und Musik liegen in der Luft, ein Duft von Verführung macht sich breit. Drei Hausmädchen in gelben Kleidern geben sich ein Stelldichein. Man wird sie nackt auf Bäume klettern sehen und in den Gewässern baden und in ihnen in ihrer Unschuld gar nicht zutrauen, dass sie auch auf Männerjagd gehen und ihre Opfer zwischen den Schenkeln fast zermalmen. Die Welt, wie Anne Serre sie in ihrem Roman „Die Gouvernanten“ entwirft, ist ein Spiel und ein Kichern.

Doch je tiefer man eindringt, desto unwirklicher erscheint jedes Detail. Éléonore, Laura und Inès, die drei Grazien, wie sie in Anspielung auf die griechische Mythologie auch bezeichnet werden, „erinnern an mechanische Spielzeuge, die sich in Bewegung setzen, sobald man den Schlüssel an ihrer Rückseite dreht.“ Wer, müssen sie sich fragen lassen, „hat schon einen freien Willen?“ Die Hoffnung, auch nur irgendetwas vom wunderlichen Treiben dieser entfernten Töchter des Zeus ließe sich festhalten, wird enttäuscht: „Kaum wären sie draußen, würde das Haus sich in Luft auflösen, der Park sich einrollen wie ein Teppich, das Tor einstürzen.“ Die gesamte Szenerie entpuppt sich als Trugbild.

Anne Serre, 1960 in Bordeaux geboren, hat in Frankreich bereits mehr als ein Dutzend Bücher veröffentlicht, von denen es bisher nur „Im Herzen eines goldenen Sommers“, ein Band mit Prosaminiaturen, ins Deutsche geschafft hat. In ihrem wiederum von Patricia Klobusiczky mit feinem Gespür für die sinnlich-rhythmische Dichte übersetzten Debütroman aus dem Jahr 1992, der uns nun mit 30-jähriger Verspätung erreicht, ohne dass er den geringsten Reiz eingebüßt hätte, schafft sie eine ganz und gar märchenhafte Atmosphäre, der allerdings nicht einmal in ihren surrealen Zusammenhängen zu trauen ist. Die Szenerie changiert mitunter von Satz zu Satz und macht sich als etwas Fiktionales kenntlich, das jederzeit Form, Farbe und Ort wechseln kann.

Wenn es keinen polemischen Beigeschmack hätte, könnte man „Die Gouvernanten“ glatt als Literaturliteratur bezeichnen. Dieser Roman, mit dem sich die Autorin als Anfang 30-Jährige ihrer Mittel versicherte, begibt sich tief in die erzählerischen Prozesse hinein, durch die Suggestionen entstehen. Er tut es nicht als auf Anhieb erkennbare Metafiktion, in der Brüche zwischen den Wirklichkeitsebenen sichtbar werden. Er tut es in einem einzigen, ständige Metamorphosen durchlaufenden Gewebe. Textwirklichkeit und Möglichkeit verschlingen einander in konsequentem Präsens unaufhörlich, und doch behält das Ganze auch in der hochpoetischen Illusionszerstörung suggestive Kraft.

Kreative Frischzellenkur

Was geschieht? Nicht viel – und viel zu vieles. Der Herr des Anwesens, Monsieur Austeur, kraftlos geworden und müde, von seiner Ehe mit Madame Austeur zusätzlich ermattet, holt sich in Gestalt der drei Grazien frisches Blut und Inspiration ins Haus. Sein Name, zusammengesetzt aus auteur für Autor und austère für nüchtern und schmucklos, ist dabei Programm. Die selbstverordnete Frischzellenkur kommt nicht ohne einen Preis. Éléonore, Laura und Inès entfalten ein zusehends ungestümes Eigenleben, das Monsieur nicht mehr kontrollieren kann. Insbesondere der sexuelle Hunger, den sie mitbringen, überfordert ihn.

Der Witz dieser Konstellation liegt darin, dass von einer Männerfantasie keine Rede sein kann. Vielmehr handelt es sich um ein Vexierspiel, in dessen Verlauf sich eine Frau in den Kopf eines Mannes begibt, der vor einem weiblichen Begehren kapitulieren muss, das ihn völlig außer Acht lässt. Was daran aufreizend wirken mag, ist immer auch feministisch gewendet: Diese drei nehmen sich einfach, was sie brauchen.

Dieses metafiktionale Durcheinander funktioniert nicht ohne Zuschauer. Oder soll man sagen Voyeure? Und so ist auch ein Leser – beziehungsweise sein literarisches Double – mit von der Partie. Es handelt sich um einen greisen Herrn, der die drei Grazien mit seinem Fernrohr als Nachbar mehr oder weniger lüstern betrachtet. Und doch haben sie auch ihn am anderen Ende des Objektivs in der Hand. Er würde, heißt es, „ein Bein entdecken, so lang wie der Turm von Babel, oder eine Brust so groß wie ein Himmelskörper“, und er würde sich in dieser Landschaft verirren, bis ihm Laura die Zunge herausstreckt, auf der er niedersinkt und verschluckt wird wie Jonas vom Wal. 

Mit welcher Fülle an Einfällen Anne Serre diese fantastische Welt durchquert und in Bewegung hält, hat etwas Zauberisches und Zirzensisches, das zugleich von einem philosophischen Raffinement im Zaum gehalten wird, das es über bloße Artistik hinaushebt. „Die Gouvernanten“ sind das Kabinettstück der Saison, das man lesen sollte, bevor Lily-Rose Depp, Hoyeon und Renate Reinsve die literarische Einbildungskraft auf der Leinwand für immer beschädigen werden.

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