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Nur Gottes Auge sieht alles. Papst Benedikt XVI. alias Joseph Ratzinger im Februar 2013 beim Amtsabschied aus dem Vatikan.

© DPA

Sexueller Missbrauch: Der Wegschauer vom Dienst

Doris Reisinger und Christoph Röhl erläutern, warum Joseph Ratzinger der Inbegriff katholischer Doppelmoral ist.

Im Sommer 1981 sandte der US-amerikanische Bischof John Cummins einen Brief an den Vatikan. Cummins leitete die Bitte von Stephen Kiesle weiter, einem Priester aus der kalifornischen Diözese Oakland, entlassen zu werden. Aus Sicht von Cummins ein überfälliger Wunsch. Kiesle hatte sechs Jungen zwischen elf und 13 Jahren missbraucht, ein Gericht hatte ihn deshalb zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. In seinem Brief schrieb Cummins auch, Kiesle hätte erst gar nicht geweiht werden dürfen.

Monatelang reagiert die Glaubenskongregation des Vatikans, eines der höchsten Gremien der katholischen Kirche, überhaupt nicht. Dann musste Cummins neue Unterlagen liefern. Er blieb hartnäckig, im Februar 1982 schrieb er Joseph Ratzinger persönlich. Der ehemalige Erzbischof von München und Freising war kurz zuvor zum Präfekten der Glaubenskongregation gewählt worden. Ratzinger, der Mann, der von 2005 bis 2013 als Papst Benedikt XVI. das Oberhaupt der katholische Kirche war, antwortete erst am 6. November 1985: Auch wenn die in diesem Fall angeführten Gründe für den Dispens „als schwerwiegend erachtet werden“, müsse man das „Wohl des Bittstellers und das Wohl der Gesamtkirche in Betracht ziehen“ und den Schaden beachten, den die Entlassung von Kiesle unter den Gläubigen anrichten könne.

Das Ansehen der Kirche war wichtiger als die Sanktionierung eines Kinderschänders. Kiesle blieb erst mal im Amt. Es ist ein großes Missverständnis, dass ausgerechnet Ratzinger, dessen Bild als gütiger Papst weltweit gepflegt wird, als jemand gilt, der sich aktiv um Aufklärung kümmerte. Unbestritten, er traf 2008 als erster Papst Opfer in den USA und in Australien. Er bezeichnete Missbrauch als „böse“ und als „Sünde“. Er sensibilisierte den Vatikan fürs Thema, doch das alles nur unter dem massiven Druck einer Öffentlichkeit, die durch immer neue Fälle aufgeschreckt war.

Persönlich mittelbar betroffen

Zudem machten auch immer mehr Bischöfe Druck. Mittelbar war Ratzinger auch persönlich betroffen. 1980 hatte die Erzdiözese München und Freising einen Priester aus Essen aufgenommen, der dort im Verdacht stand, Missbrauch begangen zu haben. Die Erzdiözese hielt die Aufnahme offenbar für einen Fehler, und Erzbischof Ratzinger wusste nichts von den Vorgängen, doch er hatte auch jahrelang weggeschaut.

Wie groß die Widersprüche im vermeintlichen Heldenbild des Joseph Ratzinger sind, haben Doris Reisinger und Christoph Röhl nun detailgenau und analytisch in ihrem Buch „Nur die Wahrheit rettet – Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger“ beschrieben. Ratzinger bildet in ihren Augen den Kern einer umfassenden Geschichte der kirchlichen Doppelmoral, menschenverachtender Ignoranz von Opfern und dem abstrus wirkenden Klammern an uralten Dogmen. Das System Kirche wird in seiner Machtbeharrung entlarvt. Wobei Doris Reisinger und Christoph Röhl, sie Theologin und promovierte Philosophin, er ein preisgekrönter Filmregisseur und Kämpfer gegen sexuellen Missbrauch, betonen, dass sie „kein Pamphlet und keine Apologie vorlegen“ wollten, auch „kein Buch mit wissenschaftlichem Anspruch“.

[Doris Reisinger, Christoph Röhl: Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger. Piper Verlag, München 2021. 352 Seiten, 22 €.]

Ihr Buch ist das Sittengemälde eines Systems, das sich jetzt quälender Selbstreinigung unterziehen muss. Die wenigsten Menschen wissen, dass in den 1980er Jahren viele Ordensfrauen an Aids erkrankt waren. Infiziert hatten sie katholische Priester, die aus Angst vor dem Aids-Virus nicht mehr zu Prostituierten gingen. Und es gab in vielen Frauenklöstern schwangere Nonnen, die dann zur Abtreibung gezwungen wurden. Eine irische Ordensschwester dokumentierte jahrelang die Fälle, 1994 informierte sie die Glaubenskongregation des Vatikans.

Der Pressesprecher der Kongregation wiegelte ab wie gewohnt und erklärte: „Ein paar negative Situationen können den oft heroischen Glauben der großen Mehrheit der Ordensmänner und Priester nicht vergessen machen.“ Kein konkretes Wort zu den Opfern. Christoph Röhl und Doris Reisinger zeichnen präzise Ratzingers Vorstellung von einer Welt nach, die auf der schlichten These basiert: Die Gläubigen haben sich der Leitung der katholischen Kirche und deren lehramtlich verlautbarten Glaubenssätzen zu unterwerfen. Wer Gegenthesen aufstellt oder auch nur in groben Zügen andeutet, der irrt.

Realitätsfremde Vorstellungen

Röhl und Reisinger gehen auf die zahlreichen Widersprüche, die Probleme und die Realitätsfremdheit von Ratzingers Vorstellungen ein, haben aber nicht den Anspruch, Ratzingers Motivationen umfassend erklären zu können. Sie werfen mitunter Fragen auf, die sie nicht beantworten können und weisen darauf auch explizit hin. Es ist eine Stärke dieses Buchs, diese Leerstellen offensiv zu vertreten. Wenn es keine seriösen Belege für Thesen gibt, wäre es fatal, Spekulationen zu verbreiten.

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Röhl und Reisinger überlassen es dem Leser, sich seine Meinung zu bilden. Es ist auch nicht nötig, alle Fragen zu beantworten. Das Buch liefert so viele schockierende Details, dass das System Kirche, in dem Missbrauch vertuscht, geduldet und verharmlost wurde, ohnehin bis zur Schmerzgrenze offenbart wird.

Dass sich auch jetzt noch, im Frühjahr 2021, deutsche Bischöfe schwer tun mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, spricht für sich. Der Fall Kiesle ist nur ein Beispiel dafür. Am 13. Februar 1987 wurde er endlich aus dem Priesterstand entlassen. Später stellte sich heraus, dass er noch viel mehr als bloß sechs Jungen missbraucht hatte. Ein Gericht verurteilte ihn deshalb 2004 zu sechs Jahren Gefängnis.

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