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Agnes Denes: Wheatfield, 1982, aus dem Film „Wheatfield – A Confrontation: Battery Park Landfill, Downtown Manhattan - With Agnes Denes Standing in the Field, 1982“.

© John McGrail / Courtesy Agnes Denes and Leslie Tonkonow Artworks + Projects

„Zerreißprobe“ in der Neuen Nationalgalerie: Ein Feuerwerk an Reibungen und Begegnungen

Alles ist möglich: Die Neue Nationalgalerie präsentiert in der Ausstellung „Zerreißprobe“ Kunst aus Ost und West aus den Jahren 1945 bis 2000. Dem Kuratorentrio ist ein großer Wurf gelungen.

Von Bernhard Schulz

Eine Zerreißprobe hat die Neue Nationalgalerie schon hinter sich, das war 1993, als erstmals Werke der in Ost-Berlin gesammelten Kunst der DDR unter die westliche Kunst gemischt wurden, die bis dahin einen Alleinvertretungsanspruch erhoben hatten. Es kam zu erheblichen Turbulenzen. Sie sind Vergangenheit. Wenn indessen die Neupräsentation der Bestände der nun längst vereinigten Nationalgalerie aus Ost- und West-Berlin plus einer Reihe von eigens angeforderten Leihgaben als „Zerreißprobe“ tituliert wird, so fragt man sich schon, wer sich heute noch darüber aufregen sollte, eine Arbeit von Willi Sitte neben einer von Andy Warhol zu finden.

„Anything goes“ wäre passender gewesen. Denn das ist die Quintessenz dieser Neupräsentation: dass alles Mögliche tatsächlich möglich ist. Kunst ist, was Künstler machen, und das gilt erst recht, da in einem bislang ungekannten Ausmaß auch Video, Performance und Körperkunst Einzug ins Untergeschoss des Mies-van-der-Rohe-Baus halten. Malerei und Skulptur als klassische Medien behaupten quantitativ ihre Vorrangstellung, sind aber längst nicht mehr die Königsdisziplinen.

Alles gab es doppelt

Eher spielt die „Zerreißprobe“ des Ausstellungstitels auf die politische Situation der Epoche an, das knappe halbe Jahrhundert zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und jenem der daraus hervorgegangenen Blockteilung in Ost und West. Alles gab es doppelt, wenn auch nicht immer eins zu eins. Aber es gab den ständigen Bezug aufeinander, in der Kunst stärker als irgendwo sonst.

Jurij Korolev, Kosmonauten, 1982 Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen, Leihgabe der Peter und Irene Ludwig Stiftung

© Jurij Korolev / Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen, Leihgabe der Peter und Irene Ludwig Stiftung

Was das Kuratoren-Trio – Joachim Jäger und Maike Steinkamp von der Nationalgalerie und Marta Smolińska als externer Gast – aus dieser fortwährenden Ost-West-Konfrontation gemacht haben, ist jedenfalls ein Feuerwerk an Begegnungen und Reibungen, aufgefächert in 14 mehr oder weniger chronologische Kapitel. Auch dank des „fließenden Raums“ von Architekt Mies van der Rohe überlappen sie sich und laden zu Ab- und Umwegen ein. Von der Decke hängende Informationstafeln vermitteln Grundinformationen, die heute nicht mehr Gemeingut aller Besucher sind.

Verwirrend kommt hinzu, dass die gute alte „National“-Galerie nur mehr dem Namen nach existiert und stattdessen alle Länder einbezieht, die in dem Ost-West-Konflikt eine Rolle spielten. So kommt es, dass nun auch einige wenige – im Übrigen gewichtige – Kunstwerke aus der Sowjetunion zu sehen sind, als Leihgaben, wo schon die eigene Sammlung in diesem Bereich nichts hergibt. Bezeichnenderweise hatte auch die Sammlung der Nationalgalerie-Ost nichts aus den sozialistischen „Bruderländern“ vorzuweisen.

Dualismus von Abstraktion und Gegenständlichkeit

Der große Saal zu Beginn des Parcours, in dem früher andachtsvoll die US-amerikanische Farbfeldmalerei hing, ist jetzt dem Dualismus von Abstraktion und Gegenständlichkeit gewidmet, jenen Grundhaltungen, die die Weltsicht der Künstler nach 1945 ausmachten. Es tut gut, diese Dualität, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren tatsächlich als Konfrontation äußerte, ohne Voreingenommenheit dargestellt zu sehen, auch ohne Zuweisung nach Ost und West. Denn im weiteren Rundgang wird sich zeigen, dass es beide Haltungen in beiden Blockhälften gab – als künstlerische und nicht als polit-ideologische Entscheidungen.

Auffällig ist, dass das Grauen von Nazi-Zeit und Krieg selten angesprochen wird und auch im Realismus des Ostens in die persönliche Befindlichkeit verlagert wird, wie in Wieland Försters Skulptur „Verzweifelter“ von 1967. Einzig der Russe Boris Nemenskij findet mit „Auf der namenlosen Höhe“ 1961 eine symbolische Darstellung des Kriegsgeschehens. Maria Lassnig aus Österreich erteilt 1963 mit ihrer „Patriotischen Familie“ allem Chauvinismus eine spöttische Absage.

Was für ein starkes, hochexpressives Gemälde! Und wie stark sind überhaupt die Positionen von Künstlerinnen! Der Betrachter wird gewahr, dass das Kuratorenteam Frauen nicht etwa einbezogen hat, um eine Quote zu erfüllen, sondern weil es sich Werk für Werk um herausragende Schöpfungen handelt; freilich, und das erklärt die jahrelange Geringschätzung, meist abseits der jahrzehntelang gängigen Medien von Malerei und Skulptur.

Ein Weizenfeld in Manhattan

Ewa Partum zeigt in Warschau Körperkunst, als ihre Selbstbefreiung tatsächlich einen Ausbruch aus der gesellschaftlichen Erstarrung bedeutete. Agnes Denes, aus Ungarn in die USA ausgewandert, ließ in Manhattan ein Weizenfeld wachsen, als noch wenige über Natur und Umwelt sprechen wollten. Carolee Schneemann macht Action Painting unter ganzem Einsatz ihres Körpers, ja ihrer Existenz.

Agnes Denes: Wheatfield, 1982, aus dem Film „Wheatfield – A Confrontation: Battery Park Landfill, Downtown Manhattan - With Agnes Denes Standing in the Field, 1982“.

© John McGrail / Courtesy Agnes Denes and Leslie Tonkonow Artworks + Projects

Und doch spielt die Ausstellung nicht eine gegen die andere Position aus. Die Sammlung an ungegenständlicher, gestischer und konkreter Malerei ist erstklassig, von Pierre Soulages bis Morris Louis, von K.O. Götz bis Barnett Newman. Die nachfolgende Pop Art wird gekoppelt mit der Propaganda-Malerei des Ostens, so dass man beides als halb affirmativ, halb ironisch wahrnimmt, ob Tom Wesselmanns „Schlafzimmer-Gemälde No. 13“ von 1969 oder Juri Koroljows „Kosmonauten“ von 1982.

Willi Sitte: Leuna 1969

© Klaus Göken / VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Willi Sittes Riesenschinken „Leuna“ von 1967-69, die Verherrlichung der Chemie-Industrie der DDR, leitet über zum Kapitel vom „Schöneren Leben“. Das wurde systemübergreifend besungen, cool im Riesenformat des Schweizers Franz Gertsch, kritisch in der DDR von Uwe Pfeifer oder Wolfgang Mattheuer. Etwas verschämt am Rand steht die Bronzefigur einer Bäuerin mit Kopftuch des Leipzigers Walter Arnold: Sie stammt aus dem Jahr des Mauerbaus 1961 und trägt, gänzlich unironisch, den Titel „Befreite Arbeit – schöneres Leben“.

Die deutsche Frage war anders virulent, beim großen A.R. Penck, der mit seiner „Standart“-Chiffren-Malerei nacheinander in beiden Systemen ein Außenseiter blieb, bei Allan Kaprow mit der Aktion „Sweet Wall“, bei Wolf Vostell oder Katharina Sieverding. Oder beim Leipziger Hans Ticha, dessen „Deutsches Ballett“ von 1984 die Militarisierung der DDR quasi erledigt. Das Gemälde durfte sein Atelier nie verlassen.

Und und und. Die Auswahl im Untergeschoss der Neuen Nationalgalerie ist so reich, so überraschend, so gehaltvoll, dass man sie immer wieder neu wird sehen können. Dem Kuratorentrio ist ein großer Wurf gelungen, an Auswahl wie an Präsentation, und kaum eine Position ist dabei, auf die man glaubt verzichten zu können, und nur weniges, das man vermisst. Aus den Ländern jenseits des doppelten Deutschland ist ohnehin nur die Spitze eines ganzen Eisgebirges zu sehen, das da für uns noch zu entdecken ist. Aber großartig, dass es hier und jetzt diese Ausstellung gibt.

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