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Der Dialog zwischen Ost und West ist wichtig.

© Montage: Tagesspiegel | freepik, Adobe Stock

Ist der Osten verloren?: Lasst uns über Gemeinsamkeiten reden!

Die Probleme im Osten sind konkret – und nachvollziehbar. Sie müssen angegangen werden. Noch wichtiger ist der Dialog. Und am Ende vielleicht sogar eine gemeinsame Verfassung.

Ein Kommentar von Christian Tretbar

Mal wieder ist er in aller Munde. „Der“ Osten. Anlass ist das Treffen der Regierungschefs der ostdeutschen Bundesländer mit Kanzler Olaf Scholz (SPD). Dabei gibt es „den“ Osten in der Form gar nicht – auch wenn ein Blick auf die Ergebnisse der Europawahlen anderes vermuten lässt.

Da ist auf der einen Seite der blau gefärbte Osten, auf der anderen der schwarz gefärbte Westen. Grautöne, andere Farben tauchen kaum auf. Nur wäre es sowohl für „den“ Westen als auch „den“ Osten viel zu kurz gegriffen, pauschal zu urteilen und dabei den ganzen Osten als rechts abzukanzeln. Ja, knapp ein Drittel wählt die AfD, heißt aber auch, dass zwei Drittel es nicht tun.

Fakt ist natürlich dennoch, dass es ein hohes Maß an Unzufriedenheit gerade in Ostdeutschland gibt, was nicht durch jahrelange Parteibindung aufgefangen wird. Und sie drückt sich unmittelbarer, direkter und manchmal leider auch aggressiver aus.

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Politische Unzufriedenheit ist keine Rechtfertigung für Nationalismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit. Dennoch wird sich auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) stärker damit beschäftigen müssen, was die Menschen in Ostdeutschland bewegt. Und zwar sehr konkret.

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, ebenfalls SPD, hat völlig recht, wenn sie konkrete Punkte benennt: die Pendlerpauschale, die medizinische Versorgung und die Pflege.

Ostdeutschland ist eine stark ländliche, wenig dicht besiedelte Region. Hier muss man vor allem mit dem Auto vorankommen, wenn man zur Arbeit will – und die ist nicht immer im selben Dorf zu finden.

Das Gleiche gilt für die medizinische Versorgung. Wenn die Menschen hier entweder stundenlang fahren müssen, um ins nächste Krankenhaus zu kommen, oder ewig auf Termine warten, dann wird natürlich die Politik dafür verantwortlich gemacht – zu Recht.

Oft fehlt die Empathie, die politische Sensorik für Ostdeutschland

Selbstverständlich gibt es diese Probleme auch in westdeutschen Regionen, aber die Ausprägung ist in Ostdeutschland flächendeckender.

Die Probleme in der Pflege treffen Ostdeutschland ebenfalls stärker. Erstens ist der Altersdurchschnitt in Ostdeutschland deutlich höher (47,2 Jahre im Jahr 2022) als in den westdeutschen Bundesländern (44,2 Jahre) und in Berlin (42,4 Jahre).

Damit ist auch der Anteil der Pflegebedürftigen höher. Außerdem sind die finanziellen Mittel vieler Ostdeutscher immer noch geringer, auch die Erbmasse ist weniger. Sprich: Pflege ist für viele Menschen in Ostdeutschland teurer.

Darauf kann Politik reagieren. Vor allem dann, wenn eine entsprechende politische Sensorik, Empathie dafür vorhanden ist. Daran mangelt es aber häufig.

Dabei ist Ostdeutschland kein Krisenfall. Die wirtschaftliche Entwicklung ist bereits gut, die Perspektive sogar noch besser. Ostdeutschland kann der Motor für ein wieder einsetzendes gesamtdeutsches Wachstum werden. Nur ist Ostdeutschland eben auch keine reine Sonderwirtschaftszone, sondern es sind fünf Bundesländer mit spezifischen Bedürfnissen.

Braucht es am Ende doch eine gemeinsame, neue Verfassung? Warum nicht?

Die gilt es zu respektieren. Ja, viele Lebensverhältnisse haben sich schon angeglichen, bei anderen ist man auf dem besten Weg und wieder andere will man in Ostdeutschland sicher auch gar nicht angeglichen haben, wie beispielsweise die Mietentwicklungen anderer Großstädte.

Es werden wohl immer ein paar Unterschiede bleiben – nur sollten sie nicht größer sein als die, die es auch zwischen westdeutschen Bundesländern gibt.

Wenn man den Osten nicht nur rein wirtschaftlich betrachtet, sondern auch politisch, kulturell, gesellschaftlich, und das Ziel hat, die Einheit noch stärker zu vollziehen, dann ist es vielleicht angebracht, die Debatte zu führen, was uns eint. Was dieses Land und diese Gesellschaft zusammenhält.

Was ist der gemeinsame Wertekanon? Was sind die Lehren aus der gemeinsamen und der unterschiedlichen Geschichte? Vielleicht fließt das ja irgendwann tatsächlich mal in eine gemeinsame Verfassung. Warum nicht?

Bis dahin würde es schon helfen, wenn die gesamtdeutsche Politik ihre Bringschuld für Ostdeutschland erfüllt. Das ist nicht immer leicht, weil die Erwartungshaltung an den Staat höher ist, auch komplizierter. Es geht um ein hohes Maß an sozialer Sicherheit, bei gleichzeitiger Forderung nach Leistung, die belohnt werden soll. Schließlich hat man selbst viel zum Wiederaufbau Ostdeutschlands geleistet.

Aber es gibt auch eine politisch-gesellschaftliche Holschuld in Ostdeutschland. Man muss jahrzehntealte Gegensätze nicht permanent weiter kultivieren und pflegen, nur weil sie einem ein Gerüst, etwas Halt in unsicheren Zeiten geben.

Viele Ostdeutsche können mit Stolz auf Erreichtes blicken und den Mut aufbringen, aus der Nische herauszukommen, sich zu bewerben für hohe Ämter in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist natürlich ein kleinteiliger, oft schwieriger Weg. So ist Demokratie. Die kann beschwerlich sein. Aber sie ist das Wichtigste – und das Erfolgreichste –, das wir alle gemeinsam haben.

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