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Die georgischen Fans beim EM-Debüt ihrer Mannschaft in Dortmund.

© IMAGO/Sportpix/IMAGO/DAVID CATRY

Ein Fußballspiel als Gesamtkunstwerk: Georgien verliert und genießt

Bei der EM in Deutschland nimmt Georgien erstmals an einem großen Turnier teil. Die Premiere geht 1:3 gegen die Türkei verloren. Trotzdem ist Nationaltrainer Willy Sagnol unfassbar stolz.

Der georgische Journalist auf der Pressetribüne in Dortmund, stilecht im Trikot seiner Fußball-Nationalmannschaft, ließ die Arbeit Arbeit sein. Er war von seinem Sitz aufgestanden und hatte sich dem Oberring zugewandt, wo die türkischen Fans ergriffen schwiegen. Er schrie aus vollem Mund, das Gesicht zur Fratze verzerrt, hatte die Brustmuskeln zum Äußersten angespannt, hielt beide Fäuste in die Höhe. Und hörte gar nicht mehr auf.

Von oben regnete es Bier.

Etwas mehr als eine halbe Stunde war im ersten Spiel Georgiens bei einem großen Turnier vorüber, als es historisch wurde – und vermutlich ganz Georgien ausflippte: auf der Pressetribüne, auf den Rängen des Dortmunder Westfalenstadions und auch fernab in der Heimat selbst.

Mit einem Schuss ins kurze Eck hatte Georgiens bulliger Mittelstürmer Georges Mikautadze den türkischen Torhüter Mert Günok übertölpelt und zum 1:1-Ausgleich getroffen. Es war das erste EM-Tor in der Geschichte des georgischen Fußballs.

Georges Mikautadze (Mitte) erzielte das erste Turniertor für die Georgier.

© imago/Bildbyran/IMAGO/JESPER ZERMAN

„Einer musste es ja machen“, sagte Georgiens Nationaltrainer Willy Sagnol über den Torschützen, der in Lyon geboren ist und beim FC Metz unter Vertrag steht. So viel Nüchternheit wie in diesem Moment war an einem Abend voller Emotionen selten anzutreffen.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Auch Sagnol, ehemaliger Spieler und Interimstrainer beim FC Bayern München, konnte sich dem Zauber dieses Vorrundenspiels nicht entziehen. Als früherer Spieler der Bayern falle es ihm schwer, das zu sagen, erklärte er, aber dieses Stadion in Dortmund sei eines der besten der Welt: „ein Stadion gemacht für Emotionen“.

Wir haben ein gutes Bild vom georgischen Fußball abgeliefert, das ist das Wichtigste. Ich will nicht sagen, dass wir glückliche Verlierer sind, aber wir sind stolz.

Willy Sagnol, Georgiens Nationaltrainer, nach dem Spiel gegen die Türkei

Am frühen Dienstagabend, im Regen von Dortmund, kochten die Emotionen über. Es brodelte und zischte, von der ersten bis zur letzten Minute. „Das Spiel und die Atmosphäre haben zueinander gepasst“, erklärte Sagnol. Das eine bedingte das andere. Und umgekehrt. Es war, wie man in solchen Fällen so schön sagt, ein perfect match.

Dieses Spiel, das die favorisierten Türken am Ende mit 3:1 (1:1) für sich entscheiden konnten, war ein Gesamtkunstwerk, perfekt komponiert aus der Stimmung auf den Rängen, aus der Intensität auf dem Feld und einer fesselnden Dramaturgie.

Der frühere Bayern-Profi trainiert seit Februar 2021 die georgische Nationalmannschaft.

© AFP/DAMIEN MEYER

Dem 1:0 der Türken durch einen fantastischen Volleyschuss des Rechtsverteidigers Mert Müldür Mitte der ersten Halbzeit folgte umgehend das vermeintliche 2:0, das wegen einer minimalen Abseitsstellung allerdings zurückgenommen wurde. Fast im Gegenzug gelang Mikautadze der Ausgleich, und unmittelbar danach verpasste Georgiens Mittelstürmer aus aussichtsreicher Position das mögliche 2:1 für sein Team.

In dieser Taktung ging es auch nach der Pause weiter. Kurz nach dem 2:1 durch einen formidablen Weitschuss von Real Madrids Jungstar Arda Güler traf Georgi Kotschoraschwili die Latte. Noch in der Nachspielzeit hatten die Georgier zwei Riesenchancen zum Ausgleich, ehe Kerem Aktürkoglu in letzter Sekunde zum 3:1 ins leere Tor traf. „Sie haben wirklich gut gespielt“, sagte der türkische Einwechselspieler Yusuf Yazici. „Heute hatten wir ein bisschen Glück.“

Willy Sagnol bescheinigte seiner Mannschaft, „ein fantastisches Spiel“ gemacht zu haben. „Wir haben ein gutes Bild vom georgischen Fußball abgeliefert, das ist das Wichtigste“, erklärte er. „Ich will nicht sagen, dass wir glückliche Verlierer sind, aber wir sind stolz.“

Georgien ist zwar EM-Neuling und in der Gruppe mit Portugal, Tschechien und der Türkei krasser Außenseiter, aber das Turnierdebüt in Dortmund hat gezeigt, dass die Mannschaft konkurrenzfähig ist. „Wir sind nicht als Touristen hier, wir sind hier, weil wir es verdient haben“, sagte Innenverteidiger Luka Lochoschwili. „Wir haben gute Spieler, wir haben eine gute Mannschaft.“

Sagnol, seit Februar 2021 Georgiens Nationaltrainer, betrachtet schon die Qualifikation für die EM als Auszeichnung. Sie ist ein Beleg für die Entwicklung, die das Land mit gerade mal so vielen Einwohnern wie Berlin (3,7 Millionen) fußballerisch gemacht hat. In Zukunft werde Georgien solche Spiele wie gegen die Türkei nicht mehr verlieren, prophezeite der 47 Jahre alte Franzose. Denn Georgien werde aus solchen Erfahrungen lernen.

„Wir sollten immer das große Bild betrachten“, sagte Willy Sagnol nach der ehrenvollen Niederlage von Dortmund. „Wir haben einen großen Moment erlebt, und ich bin sehr stolz, Teil dieses großartigen Moments gewesen zu sein.“

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