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Nachruf auf Eve Slatner: „Mach, was du willst, ich gehe nach New York“
Berlin war toll, beim ersten Mal. Beim zweiten überhaupt nicht. Sie musste fort von hier. Wo gehörte sie eigentlich hin?
Stand:
Wäre alles geblieben, wie es einst war, kein Weltkrieg, keine Judenhatz, keine Aufteilung in Ost und West, wäre aus Eva vermutlich keine Eve geworden. Das Jahrhundert aber – oder nenne man es Schicksal, Unglück, Glück – hat sie durch die Welt geschleudert, aus Mähren nach England nach Amerika nach Deutschland, Italien und wieder Deutschland.
In ihrer Berliner Wohnung ist sie gestorben, im Bioladen um die Ecke, wo sie immer ihren Cappuccino getrunken hat, gibt es eine Trauerfeier, in der Toskana wird ihre Asche beigesetzt. Dort ist bereits die Asche ihres Mannes, der Eve zu Lebzeiten auf Händen trug, der ihre Launen hinnahm und ihr ihre Wünsche, soweit nur irgend möglich, zu erfüllen trachtete, nicht nur weil sie klug und schön war, sondern, so darf man vermuten, auch weil er ein Deutscher war mit klarer, schuldbeladener Herkunft. Und weil er sie einmal zum Umzug nach Berlin überredet hatte.
In Ostrava, das zur jungen tschechoslowakischen Republik gehörte, dicht an der Grenze zu Polen, ist sie aufgewachsen. Man sprach Tschechisch und Deutsch, der Vater hatte eine Zahnarztpraxis, es ging ihnen gut. Dass sie Juden waren, spielte erst eine Rolle, als die Deutschen kamen. Im März 1939 rückte die Wehrmacht in Böhmen und Mähren ein, Eva war vier Jahre alt.
Den Eltern war klar, dass sie nicht bleiben konnten. Als Erstes schickten sie die Tochter auf die große Reise, Hauptsache, das Kind war in Sicherheit. Wie genau die Sache vonstattenging, hat Eve erst spät erfahren. Woran sie sich erinnern konnte, war nur, dass sie, die Vierjährige, allein mit dem Zug und dem Schiff nach London gefahren war und dass eine Dame auf dem Boot neben ihr Platz nahm, sich dabei auf ein Stück von Eves Kindermantel setzte, worauf diese aufsprang und die Dame böse ansah. Was so in kleinen Köpfen haften bleibt.
Die Gasteltern zeigten wenig Verständnis für den Schmerz
Erst spät und eher zufällig erfuhr sie, dass sie ein „Winton-Kind“ gewesen war. Der wohlhabende Brite Nicholas Winton unternahm im Jahr 1939 Unglaubliches. 669 jüdische Kinder holte er aus dem besetzten Tschechien nach Großbritannien. Die Passage war das geringere Problem; weit schwieriger war es, Gastfamilien und Geld für die Unterbringung aufzutreiben. Die Regierung half kein bisschen.
Wie es Eves Eltern gelang, ihre Tochter dem Retter anzuvertrauen, ist ebenso unbekannt wie die Umstände ihrer eigenen, noch unwahrscheinlicheren Flucht. Sie schafften es sogar, einen Teil ihres Hausstandes, Teppiche und ein paar Kunstwerke herüberzuholen. Aber sie haben später über diese Dinge nicht gesprochen; ein tiefer Schatten lag auf ihnen. Bis auf eine Tante und eine Cousine hat von der größeren Familie niemand den Holocaust überlebt.
Die ersten Monate in England, ohne ihre Eltern, waren, man kann sich das vorstellen, schlimm für das Mädchen. Sie weinte viel, die Gasteltern zeigten wenig Verständnis für den Schmerz. Dann kamen die Eltern, sie lebten bescheiden, und Eva – oder bereits Eve – kam auf eine Schule für tschechische Emigrantenkinder.
Das Leben war nicht einfach für die Slatners, der Vater kämpfte im Krieg gegen die Deutschen; danach gelang es ihm nicht mehr, als Zahnarzt zu praktizieren. 1947 überquerten sie den Atlantik und suchten ihr Glück in New York.
Eve könnte es dort gefunden haben. Sie studierte Schauspiel und Operngesang an einer angesehen Schule und lebte gemeinsam mit ihrem Bruder, der in England zur Welt gekommen war, in einer kleinen Wohnung. Theater, Oper, Jazzmusik, New York – das wird eine gute Zeit gewesen sein. Eve war schön und schlagfertig, und ihre Mutter machte sich Sorgen, dass das Mädchen, das sich, oh Gott oh Gott, auch mit Schwarzen anfreundete, in unüberschaubaren Verhältnissen verloren gehen könnte.
Das Mädchen sorgte für sich selbst. Von zwei Jobs, mit denen sie ihr Geld verdiente, erzählte sie später, der prestigeträchtigere: Sekretärin im Büro von Eleanor Roosevelt, der einflussreichen Präsidentenwitwe. Der originellere: In einem Büro von Metro-Goldwyn-Mayer war sie mit der Retusche brisanter Fotos betraut. Damals ließen, man stelle sich das vor, italienische Schauspielerinnen sich noch die Achselhaare wachsen, ein Anblick, der der amerikanischen Öffentlichkeit nicht zuzumuten war.
Die Jobs waren nötig, denn auf der Bühne ließ sich wenig Geld verdienen. Eve ging noch mal nach Großbritannien, wo sie, in Wales, ein Engagement in einem „Repertory Theatre“ hatte. Wöchentlich wechselnde Stücke, abends Vorstellung, tags Probe für die nächste Woche, wenig Geld, ein scheußlicher Regisseur. An einem ihrer seltenen freien Abende sah sie im Fernsehen das Interview mit einem berühmten Theaterkritiker, der gerade in Berlin gewesen war und vom Berliner Ensemble schwärmte: Vergesst das britische Theater, dort spielt die Musik!
Eve erinnerte sich an die Schallplatte mit der Dreigroschenoper, die sie vor Jahren mit Begeisterung gehört hatte. Sie war 23, was hatte sie in einem miesen Theater in Wales verloren? Auf nach Berlin! Bertolt Brecht war vor zwei Jahren gestorben, Helene Weigel führte die Geschäfte. Die junge Schauspielerin, die sich ihr vorstellte, sprach kaum Deutsch, aber selbstverständlich durfte sie sich in die Proben setzen. Von Helene Weigel schwärmte Eve: „She was lovely!“
Als er von Bord stieg, so die Legende, war es um Eve geschehen
Und dann war alles in Ost-Berlin, die Bücher, die Schallplatten, so unglaublich billig, weil man vier Ost-Mark für eine West-Mark bekam. Und dann lernte Eve auch noch Ekkehart kennen. Das geschah zwar in West-Berlin, erwies sich aber als umso wirkmächtiger. Dreimal liefen sie einander über den Weg, dann verabredeten sie sich. Auf einem Foto, das Ekkehart von ihr machte, steht sie auf dem Kurfürstendamm neben einem dieser Glaskästen, in dem Werbung für einen Film über die Nürnberger Prozesse hing. Sie waren auch gerade im Kino gewesen, in Chaplins „Großem Diktator“.
Eve kehrte heim nach New York, empfing nun Briefe von dem ausgesucht freundlichen deutschen Studenten der Politikwissenschaften. Sie schrieb ihm zurück, wenn auch etwas verhaltener im Ton. Ekkehart war ein Jahr älter als sie, aber noch deutlich unerfahrener in Liebesdingen. Umso enthusiastischer warb er um sie.
Im Jahr 1960 gelang es ihm, mit einem Stipendium nach New York zu kommen. Als er von Bord des Schiffes stieg, so die Legende, war es um Eve geschehen. Ihre Eltern waren angetan von dem gebildeten jungen Mann. Dass er Deutscher war und seine Eltern nicht ohne Schuld, nahmen sie zur Kenntnis; Hauptsache, die Tochter gelangte in geordnete Verhältnisse. Das Foto vom kleinen Ekkehart in Pimpf-Uniform im alten Fotoalbum übersahen sie freundlich.
Die Hochzeit 1962 begingen Eve und Ekkehart nach buddhistischem Ritual. Das Judentum bedeutete ihr ebenso wenig wie ihm das Christentum; so spielten allein ästhetische Erwägungen eine Rolle. Eve machte im langen farbigen Tuch eine hervorragende Figur.
Im Jahr darauf endete Ekkeharts Stipendium an der Columbia University. In West-Berlin, an der FU, gab es eine Assistentenstelle für ihn. Unklar, ob Eve ihm gern nach Deutschland folgte, deutlich aber sollte sie später sagen, dass damit keine gute Zeit für sie begann. Sie hatte das Gefühl, die deutschen Frauen würden sie ansehen, als hätte sie ihnen den Mann weggenommen. Am Theater konnte sie nicht arbeiten, dafür war ihr Deutsch nicht deutsch genug. Sie bewarb sich bei allen möglichen Opernhäusern, allein das Hamburger antwortete: Sie solle noch ein paar Erfahrungen sammeln.
Vorspiel für die große Revolte
West-Berlin war jetzt von einer Mauer umschlossen; es herrschte jener Mief, der wenig später zu den Studentenprotesten führen sollte. An einem ersten Aufbegehren war Eves Ehemann maßgeblich beteiligt. Es war das Frühjahr 1965, Ekkehart kritisierte öffentlich die Institutsleitung, weil sie kritische Veranstaltungen behindert hatte. Daraufhin wurde seine Assistentenstelle nicht verlängert, was zu weit kritischeren Veranstaltungen führte. Das sogenannte „Krippendorff-Semester“ war eine Art Vorspiel für die große Revolte zweieinhalb Jahre später.
Und Eve? War schwanger, brachte Philip auf die Welt, stillte ihn, wechselte Windeln. Alles schöne Dinge, aber wenn der Vater währenddessen die Welt draußen aus den Angeln hebt, und sei es auch nur ein winzig kleiner Teil dieser Welt, fühlt sich die junge Mutter in ihrem stillen Nest etwas alleingelassen. 1967 gebar sie David, auch sehr schön, auch sehr gut, Ekkehart debattierte, forschte, protestierte, 1968 sagte sie: Mach, was du willst, ich gehe mit den Kindern nach New York.
Nun also musste er ihr folgen. Und bekam tatsächlich eine Gastprofessur in New York. Das Visum erwies sich als das größere Problem, bei dem allerdings Eve mit ihren alten Verbindungen zum Roosevelt-Büro helfen konnte.
Doch auch das war nur eine kurze Station. Im folgenden Jahr zogen sie schon wieder um, diesmal nach Italien, Bologna. Dort hatte er eine Professur für, was denn sonst, „Internationale Beziehungen“. Obgleich er auch diesen Posten nicht allzu lange bekleidete, es folgten Stationen in Sussex, Urbino, Berlin und Tokio, blieb der Familiensitz in Italien, so lange jedenfalls, dass die Söhne sich schließlich als Italiener fühlten. Was noch lange nicht hieß, dass die Familie italienisch wurde. Bei aller Offenheit – die Hürden, mit denen die bessere Gesellschaft sich umgibt, sind hoch. Wurzeln spielen eine große Rolle.
Eve lernte die Sprache dennoch so schnell, dass sie schon nach einem Jahr auf einer Bühne stand. Einmal nahm sie an Proben für eine Oper teil, aber Operngesang ist Leistungssport, die Anstrengung erwies sich als so immens, dass sie abbrechen musste. Die Robusteste ist sie nie gewesen.
Als Ekkehart eine Wand im Ferienhaus in der Toskana mit Plakaten und Bildern pflasterte, die seine öffentliche Wirkung bekundeten, hängte sie gegenüber Poster und Fotos ihrer Theateraufführungen auf. Ohnehin: Den Großteil der Familieneinkünfte mochte er beisteuern, aber das hieß lange nicht, dass er die Hauptrolle in der Familie spielte.
Die übersichtlich war: Vater, Mutter, Sohn und Sohn, so saßen sie zur Weihnachtszeit beisammen. Eves Bruder war weit weg, sonst gab es niemanden aus ihrem Teil der Familie mehr, zu Ekkeharts Teil war die Beziehung angespannt. Und sollten sie nun eigentlich Weihnachten oder Chanukka feiern?
„Until it became Hauptstadt, it was fabulous!“
Eve hatte ein Zimmer in Rom, wo sie hin und wieder Theater spielte, meist an einem kleinen feministischen in der Nähe des Pantheons. Als Ekkehart eine Stelle in Berlin hatte und die Söhne groß genug waren, zog sie mit ihnen erst ganz nach Rom und später dann allein nach Wien. Dort beteiligte sie sich an Georges Taboris politisch-experimentellem Theaterprojekt „Kreis“. Tabori brachte die Dinge zur Sprache, die in Eves Familie ausgespart worden waren. Was bedeutet es, Jude zu sein, wo und wie kann man als Jude leben, wie spricht man über die Nazibarbarei?
Als das Projekt zu Ende ging, 1990, waren Eves Söhne nach Berlin gezogen, und Ekkehart war sowieso schon dort. Warum es nicht noch mal versuchen? 1958–1963–1990: Eve war damals 23, eine junge Schauspielerin auf der Suche nach der großen Kunst, dann war sie 28, verheiratet, und folgte nur dem Mann; jetzt war sie 55, Mutter zweier Erwachsener, Schauspielerin, die um ihre Möglichkeiten wusste, und trotz wie auch wegen ihrer Ehe eine freie Frau.
Und Berlin war endlich eine freie Stadt, offen, billig, angefüllt mit Zuversicht und Kunst. „Until it became Hauptstadt, it was fabulous!“, schwärmte Eve in einem Interview, das auf YouTube zu sehen ist. Vor elf Jahren saß sie im Studio der Deutschen Welle, des Auslandssenders, deshalb sprachen sie Englisch – das nicht ihre Muttersprache war. Ihre Sprache war es zweifelsohne. Sie sprach es auf die schöne Art, die man „Mid-Atlantic“ nennt, die feine Mitte zwischen britischem und amerikanischem Akzent. Was andere sich in den 40er und 50er Jahren mühsam aneigneten, um eine gewisse Kultiviertheit zu bekunden, hatte ihr das Schicksal mitgegeben. Dazu passte die feine, leicht schmunzelnde Art, mit der sie Fragen des begeisterten Moderators beantwortete.
„Miss Slatner is star quality“, so stand es vor beinah 70 Jahren mal in einer Theaterrezension. Wennschon kein Star aus ihr geworden ist, womöglich auch deshalb, sprechen wir von einem ausgefüllten und geglückten Leben.
Vor sieben Jahren ist Ekkehart gestorben, Eve, die ihn geliebt und ihm – wie auch er ihr – vieles zu verdanken hatte, trug es mit Fassung. Vor fünf Jahren hat ihr die Schauspielagentin gestanden, dass sie Eves Eintrag aus dem Onlinekatalog entfernt hatte. Bei einer 85-Jährigen schwindet die Hoffnung auf lukrative Aufträge. Das hat Eve dann doch etwas entrüstet.
Sie las weiter ihre Bücher und die „Süddeutsche“, sie meditierte, trank im Bioladen um die Ecke ihren Cappuccino und gab zweimal in der Woche Gesangsunterricht. Ihr Deutsch war hervorragend, den englischen Akzent aber behielt sie bei.
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