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Noch mit Kopf. Max Baumbachs Simeon, um 1936 in der Siegesallee fotografiert.

© Kurt Knauft/Landesarchiv Berlin

Neue Serie: 775 Jahre Berlin: Die strebsamen Schwestern von der Spree

Berlin kam 1237 an einem Oktobertag im Hospital zur Welt: Dort schlossen die beiden Markgrafen und der Bischof einen Pakt. Sie regelten Macht und Steuereinnahmen fürs Land und die Teilstädte. Schnell profitierte die Doppelstadt von ihrer Lage am Fluss. Folge Eins einer neuen Serie zum Berliner Stadtjubiläum.

Fledermäuse, nichts als Fledermäuse. Noch ein paar Spinnen vielleicht, Kellerasseln, Ratten, wer weiß. Schöne Geburtstagsgesellschaft! Und das Flattervieh führt nicht mal einen luftigen Tanz auf ihm zu Ehren, hängt nur stumm von der Decke seiner Pulverkammer in der Zitadelle Spandau und pennt. Auch die Menschen haben ihren in Marmor gemeißelten Ahnherrn dort im Finstern offenbar vergessen, obwohl sie genau genommen nur dem porträtierten Simeon, Pfarrer zu Cölln im Jahre des Herrn 1237, die Feier zum 775. Jubiläum ihrer Hauptstadt Berlin verdanken. Nun gut, am 28. Oktober, dem eigentlichen Geburtstag, dürfen sie sein Bildnis nicht mehr besuchen. Wegen der Fledermäuse.

Das künstlerische Potenzial Cöllns und der Schwesterstadt Berlin in der Mitte des 13. Jahrhunderts dürfen wir uns nicht allzu hoch vorstellen. Eine übersichtliche Einwohnerschaft, so um die 2000 Menschen, Handwerker, Händler, Fischer, verteilt auf etwas mehr als 200 Gebäude – die hatte andere Sorgen und kaum die Möglichkeit, den Pfarrer, mit dem die Geschichte ihrer Doppelgemeinde – jedenfalls die schriftlich überlieferte – begonnen hatte, zu porträtieren. Aber eine Abbildung Simeons gibt es doch, mehr ein Werk der Fantasie, 1899/1900 vom Bildhauer Max Baumbach für die Siegesallee im Tiergarten geschaffen. Eine Nebenfigur zu der Doppelstatue der beiden askanischen Landesherren Johannes I. und Otto III. Seit dem Frühjahr 1945 fehlt ihr allerdings der Kopf – ein Kollateralschaden des Krieges.

Viel ist nicht bekannt über den Geistlichen, eines aber steht fest: Am 28. Oktober 1237 weilte er weder in Cölln noch Berlin, vielmehr in Brandenburg. Mit anderen Honoratioren war er als Zeuge einer Vertragsschließung dort hinbeordert worden. Ein leidiger, seit 80 Jahren schwelender Streit zwischen den Brandenburger Markgrafen und den Bischöfen von Brandenburg sollte endlich durch päpstliche Vermittlung beendet werden. Seit Albrecht der Bär 1157 seinem slawischen Widersacher Jaxa von Köpenick (dem aus der Schildhorn-Sage) die Brandenburg entrissen hatte, zankten sich weltliche und kirchliche Führer um Macht und Pfründe. Besonders die sogenannten „Neuen Länder“, zu denen auch Berlin/Cölln gehörte, waren heftig umstritten, eine Einigung über Kirchenzehnt und andere Fragen war überfällig.

An dem denkwürdigen Oktobertag des Jahres 1237 war es so weit: Zwischen dem markgräflichen Brüderpaar und Bischof Gernot wurden Machtgrenzen und Befugnisse geklärt, die Verteilung der Steuereinkünfte geregelt und das Ganze „im großen Krankenhaus“, wie es im Vertrag heißt, besiegelt. Warum der feierliche Akt, heute offizielle Geburtsstunde Berlins, ausgerechnet in einem Hospital stattfand, ist kaum mehr zu klären, doch dass in der Urkunde als Zeuge neben anderen hohen Herren auch „Symeon plebanus de Colonia“ auftauchte, gibt einen ersten Hinweis, dass seine Gemeinde bereits mehr gewesen sein muss als irgendein brandenburgisches Kuhdorf. Das Originaldokument gibt es nicht mehr, vielmehr eine am 28. Februar 1238 in Merseburg ausgefertigte, heute im Brandenburger Domstiftsarchiv aufbewahrte Bestätigungsurkunde, worin der Vertrag von 1237 als sogenannter Insert aufgenommen worden war.

Der geschlossene Vergleich hat sich offenbar auch für den guten Simeon ausgezahlt. Zu den darin getroffenen Vereinbarungen gehörte das Recht der Markgrafen, in den „Neuen Ländern“, also östlich der Havel und nördlich der Spree, die Archidiakone auszuwählen. Sie wurden hier Pröbste genannt, standen einem kirchlichen Verwaltungsbezirk unterhalb des Bistums vor. Als nun Simeon am 26. Januar 1244 in einer weiteren Urkunde genannt wird, ist er bereits zum „dominus Symeon de Berlin prepositus“, zum Propst von Berlin, aufgestiegen. Es ist zugleich das erste Mal, dass die Schwesterstadt Cöllns namentlich erwähnt wird. Und wiederum wenige Jahre später, am 29. April 1247, wird Simeon sogar als „Propst von Cölln bei Berlin“ tituliert, für Historiker ein Indiz, dass die Doppelstadt bereits eine gemeinsame kirchliche Verwaltung hatte.

Und eine gemeinsame kommunale: In einer zweiten Urkunde vom selben Tag wird Simeon gemeinsam mit „Marsilius scultetus de Berlin“ genannt, dem Schultheiß Marsilius. Er ist der erste Verwaltungschef und oberster Richter der Doppelgemeinde, von dem man weiß, und der zweite namentlich bekannte Berliner, Fernhändler dazu, wahrscheinlich aus dem Rheinischen stammend, möglicherweise mit wirtschaftlich-familiären Verbindungen bis nach Marseille, wie der Name andeutet.

Berlin sei „dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“ – das berühmte Bonmot hat vor gut 100 Jahren der Kunstkritiker Karl Scheffler geprägt, eine noch heute gültige Erkenntnis, der vermutlich schon Simeon und Marsilius zugestimmt hätten. Denn offenbar begann gerade in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die kleine Doppelstadt prächtig zu gedeihen. Wenngleich die Wohnbauten noch meist schlicht aus Holz und Lehm waren, die Dächer aus Schindeln oder Stroh – bei den Gotteshäusern hatte man diese feuergefährliche Leichtbauweise bereits aufgegeben. So muss an dem aus Feldsteinquadern hochgezogenen Unterbau der Kirchtürme von St. Nikolai – anfangs eine spätromanische Basilika – schon Simeon vorbeigelaufen sein, das feine Schuhwerk vor dem phänomenalen Straßendreck geschützt durch „Trippen“, das waren Unterschuhe mit hölzernen Plateausohlen.

Der damalige Aufstieg kam kaum zufällig: Bemüht, seine Macht zu arrondieren und den Reichtum zu mehren, bemühte sich das seit 1220 harmonisch regierende Brüderpaar gezielt um eine Entwicklung seiner Mark, gründete hier, förderte dort und muss dabei gerade Berlin/Cölln, wenngleich es dort eher selten weilte, wohlwollend im Auge behalten und mit Privilegien begünstigt haben. Eine gute Wahl, war doch die Doppelgemeinde durch ihre Lage am Flussübergang gut geschützt, zudem Knotenpunkt in einem rasch fortgesponnenen Fernhandelsnetz. Bald mochten die Hamburger Kaufleute und Schiffsbauer das Holz und Getreide aus Berlin nicht mehr missen, und die Händler aus der Doppelstadt nicht den Salzhering von der Ostsee und schon gar nicht die feinen Tuche und andere Luxuswaren aus Flandern. Praktisch, dass da das Stadtoberhaupt selbst Kaufmann war wie Marsilius und das Gedeihen des Fernhandels schon deswegen besonders im Blick hatte, außerdem die Regelung der Wochen- und besonders der Jahrmärkte, wenn Händler von fernher in die Doppelstadt kamen, um ihre Waren anzubieten. Klar auch, dass die einheimische Kaufmannschaft dabei begünstigt wurde.

Wenngleich über das Wirken von Simeon und Marsilius als oberste kirchliche und weltliche Würdenträger der Doppelstadt nichts weiter bekannt ist – ungeschickt haben sie sich in ihren Rollen wohl nicht angestellt. Denn schon 1251 taucht Berlin in einer Urkunde als „civitas“ auf, als eine mit besonderen Rechten und Privilegien ausgestattete Stadt. Cölln folgt erst zehn Jahre später. Und man wird wohl auch davon ausgehen dürfen, dass die beiden Männer sich gekannt haben und als Spitzen der Berlin-Cöllner Gesellschaft engen Kontakt hielten.

Das tun sie noch heute: Denn auch den Schultheiß Marsilius hat Max Baumbach als Büste für die Figurengruppe auf der Siegesallee geschaffen. Und sie wenigstens leistet dem enthaupteten Simeon an seinem Ehrentag in der Pulverkammer auf der Bastion König Gesellschaft – sogar komplett mit Kopf.

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