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Thilo Sarrazin, aufgenommen bei einer Buchvorstellung im September 2016

© dpa/Michael Kappeler

Sarrazins neues Buch: Thilo Sarrazin legt nach - verletzend, grenz-rassistisch und manipulativ

Am Donnerstag erscheint das neue Buch von Thilo Sarrazin. In "Feindliche Übernahme" schwingt sich der Provokateur zum Islamwissenschaftler auf.

Von Anna Sauerbrey

Thilo Sarrazin hat es wieder getan. Acht Jahre sind vergangen, seit der ehemalige Bundesbanker und Berliner Finanzsenator (SPD, noch) mit „Deutschland schafft sich ab“ eine Großdebatte anzettelte. Am Donnerstag erscheint nun ein Nachfolgewerk: „Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“.

Bereits vor Erscheinen hat sich das Großwerk (450 Seiten) des Großprovokateurs auf Platz 2 der Amazon-Bestseller-Liste geschoben. Mitgeholfen haben dürfte ein Streit zwischen Sarrazin und seinem Stammverlag Random House, der zum Bruch zwischen beiden Seiten geführt hat. Das Buch erscheint nun im Finanzbuch Verlag der Münchner Verlagsgruppe. Random House und Sarrazin begegnen sich vor Gericht. Grund für die Trennung waren wohl sowohl Terminstreitigkeiten als auch inhaltliche Fragen. Sicher hilfreich war für Sarrazin das erste Geraune nach Bekanntwerden des Streits, das Werk könne Random House zu heikel sein.

"Feindlich Übernahme" ist erneut grenz-völkisch und manipulativ

Und heikel ist es tatsächlich. „Feindliche Übernahme“ ist mindestens so selektiv im Umgang mit der Realität wie es kreativ beim Umgang mit Statistiken und Prognosen ist; die Thesen sind mindestens so grenz-völkisch wie in „Deutschland schafft sich ab“; in vielem wiederholt Sarrazin sich. Sein Denken hat sich nicht verändert, ebenso wenig wie seine Methode. Der größte Unterschied: Er hat jetzt (leider, leider) auch noch den Koran gelesen und schwingt sich zum Islamwissenschaftler auf.

Der Plot dieser (komplett kunstfreien) Sachbuchvariante von Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ ist schnell erzählt. Das Buch gliedert sich in fünf Großkapitel. Sie spiegeln den Fünfschritt von Sarrazins Argumentation, der so geht: Der Islam sei eine gewalttätige, das Individuum unterdrückende und isolationistische Religion (Kapitel 1). Er sei geprägt vom „Prinzip der Unterwerfung“, er verursache eine „geistige Steppe im Leben der Völker“, eine Religion, die die Künste „verödet“.

Was das bewirke, zeige sich in der „Rückständigkeit“ der muslimischen Welt, als deren Ursache Sarrazin die „kulturelle Prägung“ durch den Islam sieht: „Stark sind die islamischen Länder nur beim Bevölkerungswachstum“, urteilt der Autor in unübertrefflicher Pauschalität. „Schwach sind sie bei der Schaffung von Wohlstand, schwach sind sie bei der Bildung ihrer Menschen, und schwach sind sie in Wissenschaft und Technik.“ (Kapitel 2 und 3).

Jetzt kommt dieser Islam mit den Muslimen nach Europa. Wie ein Leitmotiv zieht Sarrazin das Bild von der Invasion durch das ganze Buch. Der Autor sieht eine „allmähliche demografische Überwältigung durch den Islam“, der Islam sei „in Deutschland und Europa langfristig auf dem Weg zur Mehrheitsreligion“, der Prozess der Einwanderung habe „möglicherweise überhaupt erst begonnen.“ Er vergleicht die heutige Einwanderung nach Europa mit der Völkerwanderung und den muslimischen Feldzügen des Mittelalters, verwirft den Vergleich dann zwar wieder, aber das Framing ist gesetzt. Im vierten Kapitel wiederholt Sarrazin dann seine Thesen aus „Deutschland schafft sich ab“, nun stärker mit kulturellem als ökonomischem Fokus.

Sarrazins Buch wiederholt die Thesen von "Deutschland schafft sich ab"

Da Muslime weniger gebildet seien, hatte Sarrazin 2010 noch geschrieben, sei Deutschlands Produktivität bedroht. Nun legt er den Fokus stärker auf den gesellschaftlichen Frieden, es drohten verstärkte Gewalt und Kopftücher überall. Deutschland müsse jetzt mit allen Mitteln dagegenhalten – wie das geschehen soll, legt Sarrazin in Kapitel 5 dar. Die Vorschläge sind teilweise migrationspolitisches Allgemeingut (Fluchtursachenbekämpfung), teilweise verfassungswidrig (generelles Kopftuchverbot in Schulen, Erfassung der DNA und Iris-Scan aller Migranten in Transitzonen, in denen sie bis zu 30 Tage bleiben sollen), teilweise schlicht gaga (Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern in ihre Herkunftsländer, auch wenn diese die Rücknahme ablehnen, „notfalls unter militärischem Schutz“).

Wie schon in „Deutschland schafft sich ab“, gibt Sarrazin seinem Buch den Anschein von Wissenschaftlichkeit und behauptet, er beschreibe „soziologische Tatsachen“. Aus seiner Sicht sind die Fakten „eindeutig“. Alle, die seine Thesen hinterfragen, verdächtigt er vorsorglich der Ideologie: „Die Anstößigkeit ergibt sich allenfalls aus einem Weltbild, zu dem diese Tatsachen nicht passen.“ Wie auch in „Deutschland schafft sich ab“ besteht das Buch seitenlang aus Tabellen, Auflistungen und Zitaten. Es ist die gut sortierte Daten- und Materialsammlung eines Besessenen.

Daten- und Faktensammlung eines besessenen Autodidakten

Tatsächlich stehen Sarrazins Thesen auf einem sehr wackligen Fundament. Gleich im ersten Kapitel maßt sich der selbsternannte Islamwissenschaftler eine Darstellung der wichtigsten Aussagen des Koran an. Eine historisch-kritische Auseinandersetzung unterbleibt, auch jede Auseinandersetzung mit der Literatur. Er wolle bei seiner Bewertung „nicht von Behauptungen und Einschätzungen aus zweiter Hand leben“ und habe deshalb „den Koran (…) von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen“. Es folgt eine Sammlung all jener Stellen, in denen von Gewalt, Rache, Fesseln, Ketten, der Hölle und den Ungläubigen die Rede ist. Wie ein Islamist nimmt Sarrazin den Koran wörtlich und sucht sich jene Elemente heraus, die seinem Zweck dienen. „Der Islam ist keine sehr komplizierte Religion“, urteilt er abschließend.

Insgesamt hat Sarrazin für sein Buch nicht viel gelesen, zumindest kaum wissenschaftliche Publikationen. Er schöpft weitgehen aus der populären Publizistik - seine Konfidenten sind Necla Kelek, Heinz Buschkowksy, Hamed Abdel-Samad, Henryk Broder und Joachim Wagner – und arbeitet sich bissig an jenen ab, die er als seine Gegner wahrnimmt, wie den Rechts- und Islamwissenschaftler Mathias Rohe. Die wissenschaftliche Integrationsforschung nimmt er nur sehr selektiv wahr, gelegentlich zitiert er Ruud Koopmans (der das eigentlich nicht verdient hat). Und erneut stellt er Statistiken und Fakten selektiv oder verfälschend dar.

Spekulative Datenbasis

Das fängt schon an bei den Zahlen, die ihm als Grundlage seiner These von der „Islamisierung“ dienen. Sarrazins Argument geht so: Weil der Islam Frauen unterdrückt, bekommen muslimische Frauen mehr Kinder. Und weil der Islam eine so unbewegliche und isolationistische Religion ist, wird sich das auch nicht ändern. So malt er das Schreckensszenario einer demographischen Übermacht. Wie einseitig Sarrazins Lesart ist, kann man in den Studien nachlesen, die er selbst zitiert, zum Beispiel „The Future of the Global Muslim Population“, ein Studie des renommierten US-Umfrageinstituts Pew Research Center von 2011.

Dort steht, dass Geburtenraten in vielen muslimisch geprägten Ländern zwar weiter steigen, aber deutlich langsamer als in der Vergangenheit. Beispiele sind Bangladesch und Indonesien, aber auch Libanon, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Türkei, Tunesien. Die abflachende Kurve führen die Demographieforscher auf Modernisierungseffekte zurück: In den genannten Ländern machen mehr Frauen als früher höhere Bildungsabschlüsse, die Urbanisierung setzt sich fort, es gibt einen allgemeinen Anstieg des Lebensstandards. Die Säkularisierung spielt aus Sicht der Pew-Wissenschaftler dabei eine untergeordnete Rolle.

Sarrazins These von der ursächlichen Verknüpfung von Islam und hohen Geburtenraten widerspricht die Studie. “Der Einfluss der Religion auf die Geburtenrate ist schwer zu messen. Man sollte nicht annehmen, das der Islam ursächlich ist. Kulturelle, soziale, ökonomische, politische, historische und andere Faktoren könnten eine ebenso große oder größere Rolle spielen”, heißt es in der Studie. Die Studie nimmt an, dass die Geburtenrate von Muslimen in Europa über die Jahre sinkt, 2030 soll sie bei 2,0 liegen, – gegenüber 1,6 Prozent unter Nicht-Muslimen.

Sarrazin operiert mit intransparenten "Überschlagsrechnungen"

Trotzdem behauptet Sarrazin unter Berufung auf die Pew-Studie und eine eigene, nicht näher erläuterte „Überschlagsrechnung“ in einem eigenen, nicht näher erläuterten „Szenario hohe Einwanderung“, im Jahr 2050 würden in Deutschland 40 Prozent der Geburten auf Muslime entfallen. Als weiteren Beleg führt er effektvolle, aber wenig repräsentative Einzelbeispiele an („In Europas Hauptstadt Brüssel sind bereits ein Viertel der Bevölkerung Muslime, auf sie entfällt die Hälfte aller Geburten“). Sein Vorgehen ist so intransparent wie spekulativ.

Auch das „Stagnationsargument“ hält der Überprüfung nicht statt: Sarrazin geht davon aus, dass Muslime „ihre Kultur quasi in einer virtuellen Blase zu uns tragen und Assimilation verweigern“. Die Migration „führe die Einwanderer und ihre Nachfahren kaum je in die höheren Etagen der Bildungsleistung, des wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Erfolgs“, behauptet er. „Bildungsleistung und Arbeitsmarktbeteiligung“ seien „unterdurchschnittlich“ und zeigten „wenig Anzeichen zur Verbesserung“.

Man muss nicht lange googeln, um Gegenteiliges zu finden. Erst im Mai veröffentlichte die OECD eine Studie, die das Bildungsniveau von Einwanderern im Generationenvergleich prüft. Eine der „Fallstudien“ schaut explizit auf Deutschland. Verglichen werden die Bildungsabschlüsse von türkischen und jugoslawischen Einwanderern der Einwanderergeneration und der ersten Kindergeneration, außerdem die der ersten Kindergeneration der Einwanderer mit Kindern von in Deutschland Geborenen. Unter aus der Türkei eingewanderten Erwachsenen hatten nur 50 Prozent der Männer und 30 Prozent die Frauen einen Bildungsabschluss. Ihre Kinder steigen auf. Nur 10 Prozent verlassen die Schule ohne Abschluss.

Richtig ist, dass die Kinder türkischer Einwanderer damit immer noch etwas schlechter abschneiden als  gleichaltrige Deutsche, dass viele der Abschlüsse Hauptschulabschlüsse sind, dass Aufstieg also ein langer Prozess ist. Allerdings betonen die Autoren, die Unterschiede zu gleichaltrigen Deutschen ähnlicher Bildungsherkunft seien klein, außerdem schneiden gerade Frauen gut ab. Es mache mehr Sinn, den Fortschritt über die Generationen zu betrachten, als Bildungsniveaus absolut zu vergleichen, schreiben die Autorinnen Claudia Diehl (Universität Konstanz) und Nadia Granato (Universität Mannheim). Richtig ist auch, dass die Kinder der Einwanderergeneration ihre Bildung nicht im selben Maße in Erfolg am Arbeitsmarkt umsetzen können wie die Kinder von in Deutschland Geborenen. Im Generationenvergleich aber sind sie deutlich erfolgreicher als ihrer Eltern – die Frauen sogar überproportional, was gegen Sarrazins These von der über Generationen weitergegebenen Unterdrückung der Frauen spricht.

Muslime seien undemokratisch - und das werde sich nicht ändern

Ein drittes Beispiel: Dass Muslime darüber hinaus besonders undemokratisch seien, will Sarrazin mit dem Wahlverhalten der Deutschtürken belegen. „Werthaltungen passen sich nur langsam an westlichen Standards an, wenn überhaupt“, behauptet er und führt als Beleg an, dass „die oft schon seit vielen Jahrzehnten in Deutschland lebenden oder gar hier geborenen türkischen Staatsbürger zu zwei Dritteln beim türkischen Referendum über die Verfassungsänderung mit Ja stimmten und sich damit implizit gegen eine westliche Demokratie aussprachen. Ein Jahr später bekräftigen sie im Juni 2018 diese Haltung bei der Präsidentenwahl und wählten zu zwei Dritteln Erdogan.“

Tatsache ist: 2,8 Millionen Menschen in Deutschland stammen aus türkischen Familien oder haben einen türkischen Pass. Davon sind nur 1,4 Millionen überhaupt noch in der Türkei wahlberechtigt. Nur 50 Prozent beteiligten sich an der Präsidentschaftswahl und am Verfassungsreferendum, also rund 700.000 Personen. Für Erdogan stimmten bei der Präsidentschaftswahl 65 Prozent, also rund 500.000. Zutreffender wäre es also zu sagen, das knapp 18 Prozent der „Deutschtürken“ für Erdogan stimmten.

Hier schreibt eine verletzte und beleidigte Seele

Und so geht es immer weiter. Es ist nicht alles falsch, was Sarrazin sagt. Es ist nur wahnsinnig einseitig. Am Ende bleibt als Erkenntnis vor allem das: Hier schreibt ein beleidigter und verletzter Autodidakt, den die Debatte um sein erstes Buch schwer mitgenommen hat und der es jetzt allen noch einmal zeigen will. Sarrazin bleibt sich und seinen Thesen treu. Das Buch ist in sich und im Vergleich mit „Deutschland schafft sich ab“ extrem redundant. Der schlecht kaschierte kulturelle Rassismus (mindere „kognitive Fähigkeiten“ der Muslime, „Vermischung“ von Menschen unterschiedlicher Herkunft, die Annahme unüberwindbarer, quasi-genetischer kultureller Eigenschaften eines Menschen) bleibt ekelhaft. Der lehrmeisterliche und gleichzeitig beleidigte Ton bleibt unerträglich. Die Reklamation von Wissenschaftlichkeit und Wahrheit bei gleichzeitig selektivem und/oder intransparentem Umgang mit Daten und Studien nimmt dem Buch die Glaubwürdigkeit. Lesen Sie es nicht.

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