
© dpa/Bernd von Jutrczenka
Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis im Interview: „Unsere Industrie befindet sich gerade im perfekten Sturm“
Putin, Trump und China gefährden die deutsche Industrie, sagt der Vorsitzende der IG BCE. Er plädiert für Lockerungen beim Klimaschutz. Die Idee von längeren Arbeitszeiten hält Vassiliadis für „absurd“.
Stand:
Herr Vassiliadis, als Sie vor 16 Jahren zum ersten Mal an die Spitze der IG BCE gewählt wurden, waren Sie der jüngste Gewerkschaftschef hierzulande. Inzwischen sind Sie mit Abstand der Dienstälteste. Muss eine fünfte Amtsperiode bis 2029 wirklich sein?
Ja. Unsere Branchen befinden sich gerade im perfekten Sturm, Zehntausende Jobs stehen auf dem Spiel. In einer solchen Krise braucht es Stabilität und Erfahrung an der Spitze einer Gewerkschaft – genauso wie funktionierende Netzwerke und Einfluss in Berlin und Brüssel. Deshalb hat der Hauptvorstand der IG BCE das gesamte aktuelle Führungsteam für eine weitere Amtszeit nominiert.
Putins Krieg und die Energiekrise sind schuld.
Putin, Trump und China stehen alle für Megaveränderungen, die das Geschäftsmodell der deutschen Industrie mindestens gefährden. Auf der Arbeitnehmerseite sind wir derzeit extrem herausgefordert.
Nach Ihrer ersten Wahl 2009 haben Sie gesagt, „wir müssen als Gewerkschaften aus der Defensive kommen“. Im Vergleich zu heute waren das schöne Zeiten.
Damals ging es vor dem Hintergrund der Finanzkrise um den Stellenwert der Industrie in Deutschland. Heute attackieren andere unser System. Die Amerikaner setzen die Handelspolitik als Waffe ein, die Chinesen greifen uns mit Dumpingpreisen an, Putin hat unsere Abhängigkeiten ausgenutzt. Es besteht die Gefahr, dass die Arbeitnehmer nun die Folgen tragen müssen.
Das wollen die Gewerkschaften verhindern, trotz schwindender Macht: Die IG BCE hat fast ein Fünftel weniger Mitglieder als vor 16 Jahren.
Bei uns als IG BCE liegt das natürlich auch am Auslaufen des Steinkohlebergbaus und an demografischen Faktoren. Beim Organisationsgrad im Betrieb sind wir immer noch die Referenz. Aber klar: Insgesamt schrumpft die traditionelle gewerkschaftliche Basis – auch deshalb musste einst für viele Branchen der gesetzliche Mindestlohn eingeführt werden.
Was ist das Geschäftsmodell der Gewerkschaften?
Das verändert sich ja nicht: Teilhabe und Aufstieg ermöglichen, Sicherheit und Solidarität bieten. Wir als IG BCE wollen diesen Nutzen einer Mitgliedschaft stärker in der heutigen Lebenswirklichkeit erlebbar machen. So haben wir zum Beispiel eine Pflegezusatzversicherung im Tarifvertrag vereinbart, die der Arbeitgeber finanziert, oder einen zusätzlichen freien Tag für Gewerkschaftsmitglieder durchgesetzt.
Wir beschließen inzwischen jede Woche einen Streik in einzelnen Unternehmen, um dort anständige Arbeitsbedingungen oder sichere Arbeitsplätze durchzusetzen.
Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE
Was hat das gebracht?
Einen Rekord bei den Eintritten im vergangenen Jahr und bei den bestehenden Mitgliedern das Gefühl, dass ihr gewerkschaftliches Engagement auch wertgeschätzt wird. Angebote wie die Pflegezusatzversicherung passen zu unseren Werten. Es gibt keine Gesundheitsprüfung und keine Altersunterschiede. Alle sind gleich, so verstehen wir Solidarität.
Ist eine tarifvertragliche Rentenzusatzversicherung möglich?
Warum nicht? Die „zweite Säule“ der Betriebsrenten haben wir in unseren Branchen ja schon stark gemacht. Das ließe sich durchaus auf die private Altersvorsorge ausweiten: Wir machen das kollektiv und obligatorisch, der Staat hilft steuerlich. So könnte die Marktmacht der Gewerkschaften dazu beitragen, die Sorgen der Menschen zu verringern. Ich nenne das wertebasierten Pragmatismus.
Die Bundesvereinigung der Arbeitgeber holt Themen wie längere Arbeitszeiten aus der Schublade. Sowas soll uns durch den perfekten Sturm bringen? Absurd.
Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE
Als Sozialpartner spielen Gewerkschaften gemeinsam mit den Arbeitgebern eine systemrelevante Rolle. Bewährt sich die Partnerschaft in der aktuellen Krise?
In der Einschätzung über die Gefahren für die Industrie gibt es viel Übereinstimmung. Ich unterscheide zwischen Sachlichkeit und Ideologie. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeber holt Themen wie längere Arbeitszeiten aus der Schublade. Sowas soll uns durch den perfekten Sturm bringen? Absurd.
Die IG Metall hat kürzlich eine größere Konfliktbereitschaft angekündigt. Kann die IG BCE das auch – der letzte Streik in der Chemie war 1971?
Wir sind ohne Streiks genauso erfolgreich gewesen, haben Top-Tarifverträge und gute Vereinbarungen. Aber: Tatsächlich verändert sich die Sozialpartnerschaft, wir beschließen inzwischen jede Woche einen Streik in einzelnen Unternehmen, um dort anständige Arbeitsbedingungen oder sichere Arbeitsplätze durchzusetzen. Die Verteilungsspielräume werden knapper.
Unseren Kolleginnen und Kollegen fehlt jegliches Verständnis dafür, dass sie sich um ihre Arbeitsplätze sorgen und gleichzeitig Debatten um Zwölf-Stunden-Arbeitstage oder Rente mit 70 ertragen müssen.
Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE
Oder es sollen neue Spielräume entstehen, indem alle länger arbeiten, wie der Bundeskanzler meint.
Die Arbeitszeitdebatte passt überhaupt nicht zu den Flexibilitäten, die wir in den vergangenen 20 Jahren in der Industrie aufgebaut haben. Unseren Kolleginnen und Kollegen fehlt jegliches Verständnis dafür, dass sie sich um ihre Arbeitsplätze sorgen und gleichzeitig Debatten um Zwölf-Stunden-Arbeitstage oder Rente mit 70 ertragen müssen.
Sie sind einflussreich wie kein anderer Gewerkschafter und haben in vielen Regierungskommissionen mitgewirkt. Was ist neu in diesem „Herbst der Reformen“?
Ich bin überzeugt davon, dass manche Dinge, für die wir schon lange werben, jetzt eine gute Umsetzungschance haben. In den Jahren nach der Finanzkrise 2009/2010 ließ sich mit Geld manches übertünchen, beispielsweise in der Energiewende. Das ist vorbei.
Die Kasse von Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) ist leer.
Weil wir seit Jahren nicht mehr wachsen. Der Grund ist die Krise in der Industrie. Wir müssen verhindern, dass uns noch mehr gute Jobs, Wertschöpfung und Staatseinnahmen wegbrechen. Dafür brauchen wir dringend einen neuen, realistischen Blick auf die Transformation.
Also die Umstellung von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Klimaneutralität.
Transformation kann funktionieren – wenn der Staat die dafür notwendigen Rahmenbedingungen bereitstellt und Realismus ins Zentrum stellt. Der deutlich geringere Strombedarf in der Zukunft, den der Monitoringbericht der Wirtschaftsministerin zur Energiewende ausweist, sendet da pessimistische Signale.
Wir werden uns dagegen wehren, den Niedergang der Industrie achselzuckend zur Kenntnis zu nehmen. Schon heute verlieren wir massiv Wertschöpfung – zum Beispiel bei der Ammoniak-Fertigung, die komplett gasabhängig ist.
Wenn der Steamcracker von Dow Chemical in Mitteldeutschland verschwindet, brechen ganze Wertschöpfungsstufen weg.
Deshalb muss man überlegen, ob eine andere Versorgung solcher Industriecluster möglich ist. Diesen Teil des Strukturwandels kann man sachlich besprechen und versuchen zu lösen. Dazu gehören auch eine Prise Standortpatriotismus und der Wille, unsere Stärken zu stärken. Nur so können wir dem Kostennachteil etwa den USA gegenüber etwas entgegensetzen.
„Made in Europe“ ist eine neue Losung der EU-Kommission.
Das ist auch richtig so. Nicht nur, weil wir resilienter und unabhängiger werden müssen, auch weil unsere weltweiten Exporte tendenziell eher geringer werden.
Die EU hat einen klaren Fahrplan Richtung Klimaneutralität, im Mittelpunkt steht das ETS-Handelssystem mit Verschmutzungsrechten, den CO₂-Zertifikaten, das Sie aufweichen möchten.
Ich plädiere für einen Realitätscheck. Nach dem derzeitig gültigen Fahrplan wird das ETS Jahr für Jahr verschärft, indem weniger Zertifikate zugeteilt werden, was den Preis steigen lässt. CO₂-intensive Standorte befinden sich aber schon jetzt auf der Intensivstation.
Wenn der perfekte Sturm bläst, dann müssen wir das Dreieck aus Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit neu justieren.
Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE
Das System ist seit Langem bekannt, die Unternehmen konnten sich entsprechend vorbereiten und in CO₂-ärmere Verfahren investieren.
Wie sollen sie das tun, wenn die dafür notwendigen Alternativen nicht zur Verfügung stehen oder zu teuer sind? Stichworte: Wasserstoff, jederzeit verfügbarer Grünstrom, moderne Energienetze und Speicher. Die Politik fordert nur, liefert aber nicht fristgerecht ab.
Was ist die Lösung?
Wir sollten für die CO₂-intensiven Betriebe die freie Zuteilung von Zertifikaten so lange fortsetzen, bis die Alternativen zu wettbewerbsfähigen Konditionen am Markt sind.
Dann ist das Klimaziel nicht erreichbar.
Doch. Wenn wir alle an einem Strang ziehen, alle Möglichkeiten nutzen, das CO₂ aus der Luft zu bekommen und Einsparungen endlich über die Modernisierung von Infrastruktur und Anlagen erreichen – und nicht mit Abschalten.
Was ist mit den Bereichen Verkehr und Wärme, die von 2027 an ins ETS-System einbezogen werden?
Auch hier plädiere ich für einen Realitätscheck. Als IG BCE betreuen wir Werkswohnungen ehemaliger Bergarbeiter. Die durchschnittliche Nettokaltmiete liegt aktuell bei 6,60 Euro. Wenn wir alles energetisch so sanieren würden, wie es sich der Staat wünscht, dann würde sie auf 11,20 Euro steigen. Wer soll das bezahlen?
Also ist das Handelssystem falsch.
Für große Teile der Wirtschaft ist es vermutlich richtig. Aber für Bereiche der Daseinsvorsorge, wie eben Wohnen, funktioniert das so nicht.
Bis heute herrscht in Europa zu viel Kleinstaaterei. Wenn wir beispielsweise die Energiepolitik von der Wasserkraft im Norden bis zum Solarstrom im Süden Spaniens denken, dann bringt uns das voran.
Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE
Welche Klimaschutzmaßnahme halten denn dem Realitätscheck stand?
Ich war in Norwegen am riesigen CCS-Terminal „Northern Lights“ und habe mit dem norwegischen Ministerpräsidenten und dem Equinor-Chef gesprochen. Deren Geschäftsmodell hängt an Deutschland. Sie sagen: Wenn wir von euch kein CO₂ bekommen, können wir keine Pipeline bauen.
Sie möchten also CO₂ in Norwegen speichern?
Die Norweger sagen, dass sie die gesamten europäischen CO₂-Emissionen von 50 Jahren speichern könnten. Die deutsche Politik hat CCS jahrelang abgelehnt und sogar verboten. Inzwischen diskutieren wir immerhin über eine Speicherung in der deutschen Nordsee. Das wird aber noch dauern. Der Weg über Norwegen wäre deutlich schneller.
Und das trauen Sie der Merz-Regierung zu?
Wenn der perfekte Sturm bläst, dann müssen wir jedenfalls das Dreieck aus Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit neu justieren. Klimaschutz kann ein Modernisierungsthema werden, aber anders als bisher. Zum Beispiel Kreislaufwirtschaft. Wir haben die Technologien für das Aufarbeiten und Recyceln, müssen aber viel stärker skalieren, um Kosten zu drücken. Das kann im europäischen Maßstab funktionieren.
Der Binnenmarkt als Ersatz für die USA und China?
Wenn wir wehrhafter werden wollen in Europa, dann betrifft das nicht nur das Militär. Bis heute herrscht in Europa zu viel Kleinstaaterei. Wenn wir beispielsweise die Energiepolitik von der Wasserkraft im Norden bis zum Solarstrom im Süden Spaniens denken, dann bringt uns das voran.
Mit Blick auf Ihre nächste Wahlperiode haben Sie angekündigt, die Demokratie verteidigen zu wollen. Steht es so schlimm?
Unser Land ist ein Rechts- und Sozialstaat und ein Land der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Der Zweifel, dass sie von der Politik gesehen werden, ist groß. Der Eindruck, dass es nicht gerecht, nicht sachlich und nicht pragmatisch zugeht, kommt hinzu. Populistische Debatten über längere Arbeitszeiten verstärken dieses Gefühl. Nun haben die Rechten hier tatsächlich nichts zu bieten.
Die demokratischen Kräfte müssen das Vertrauen in die gerechte Zukunftsgestaltung stärken. Wie viel Transformation ist zumutbar für die Beschäftigten? Die Antworten darauf müssen wir in Zeiten des perfekten Sturms neu geben.
- Altersvorsorge
- China
- Donald Trump
- Energiewende
- Jugend
- Lars Klingbeil
- Norwegen
- USA
- Wladimir Putin
- Wohnen in Berlin
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid:
- false