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Sicherheitsbehörden schätzen die Zahl der Reichsbürger in Deutschland auf 15.000 - Tendenz steigend.

© imago/Christian Ditsch

Verstörendes Interview in Berlin: Hier sprechen die Reichsbürger

Normalerweise schweigen Reichsbürger gegenüber der Presse. Zwei Vertreter der „geeinten deutschen Völker und Stämme“ haben eine Ausnahme gemacht - und geben tiefe Einblicke in ihre Szene.

An einem Donnerstag Mitte Oktober ist Hans Sahr zum Rathaus in die Zehlendorfer Kirchstraße gefahren. Er nahm die Treppe in den ersten Stock, zum Sekretariat der Bezirksbürgermeisterin, und übergab einen Brief. Der Mitarbeiter habe sich arg gewundert, sagt Sahr. „Zuerst lächelte er, aber je weiter er las, desto ernster wurde er.“ Das Schreiben enthielt ein Ultimatum: Innerhalb einer Woche müsse das gesamte Rathaus geräumt werden. Schlüssel und Siegel seien ihm, Hans Sahr, persönlich auszuhändigen.

Sahr ist Rentner. Kurzes, braunes Haar, Schnurrbart und Halbrandbrille, leichtes Übergewicht. Unauffälliger Typ. In seinem früheren Leben montierte er Klimaanlagen. Jetzt nennt er sich „Gerichtsvollzieher“. Er sagt, er handele im Auftrag des „Höchsten Gerichts der geeinten deutschen Völker und Stämme“.

Die Bundesrepublik Deutschland? Kein Staat, sondern eine Firma

Seine Mitstreiter und er werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Sie gelten als extremistisch, Kategorie: „Reichsbürger und Selbstverwalter“. Damit gehören sie zu einer wachsenden, heterogenen Gruppe, die den Sicherheitskreisen Sorge bereitet. Gerade hat der Verfassungsschutz ihre Zahl nach oben korrigiert - auf mittlerweile 15 000. Was sogenannte Reichsbürger eint, ist die Überzeugung, die Bundesrepublik Deutschland sei kein Staat, sondern eine Firma. Sie schikanieren Ämter, verweigern Steuern. Viele sind bewaffnet. Und manche bereit, ihre Waffen einzusetzen. In Nürnberg wurde am Montag ein Reichsbürger wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, in Halle steht ein anderer wegen Mordversuchs vor Gericht, beide hatten auf Polizisten geschossen. Sahr sagt: „Wir sind komplett friedlich.“

Die meisten Reichsbürger meiden die Öffentlichkeit. Mit der Presse reden sie grundsätzlich nicht, Journalisten halten sie für Lakaien der BRD GmbH. Hans Sahr ist eine Ausnahme. Er erklärt sich zu einem Interview bereit. Einzige Bedingung: „Meine Chefin muss mitkommen.“

„Wenn wir uns leise unterhalten, sollte es gehen“

Freitagvormittag im Café eines Biomarkts am Fehrbelliner Platz. Hans Sahr kommt im quergestreiften Polohemd, bestellt Cappuccino und setzt sich in die hintere Ecke auf eine Holzbank. „Wenn wir uns leise unterhalten, sollte es gehen.“ Seine Begleiterin ist eine stark geschminkte Frau Mitte 50. Strenger Blick, Bluse mit Blümchenmuster. Sie heißt Heike Werding und fungiert als „Generalbevollmächtigte der geeinten deutschen Völker und Stämme“. Das bedeutet, sie ist die höchste Staatsvertreterin ihres Fantasiereichs. Heike Werding legt ein fünfseitiges, eng bedrucktes Dokument mit dem Titel „Allgemeine Handelsbedingungen und Gebührenordnung“ vor, in dem sie hohe Geldstrafen androht. Das solle man unterschreiben. Wenn man sich weigert, ist es ihr auch egal. Sie redet einfach drauflos. In den nächsten zwei Stunden geben die beiden seltene Einblicke in die Strukturen, Gesetzmäßigkeiten und Gedankenwelten einer Szene, die auf Außenstehende bizarr, wenn nicht komplett verrückt wirkt. Es ist eine Welt, in der das Deutsche Reich fortexistiert, Personalausweise eigentlich Unternehmenszugehörigkeitsausweise sind und Deutsche keine Schuld an den Weltkriegen tragen, weil diese ja von Firmen geführt wurden.

Heike Werding hat die Kopie eines mehrseitigen Briefs mitgebracht. Das Original hat sie vergangenen Monat an Angela Merkel geschickt. Darin fordert sie die Kanzlerin auf, das „Unternehmen Bundesrepublik mit allen Filial- und Tochterunternehmen“ mit sofortiger Wirkung zu schließen. Merkel dürfe den Bundestag nicht mehr betreten, sich nicht mehr als Volksvertreterin darstellen. Gültig seien die „Gesetze der Gebietskörperschaften von vor 1914“. Bei Verstößen drohe Merkel Sippenhaft, was bedeute, dass „zum Schadensausgleich drei Generationen der lebenden Vorfahren und drei Generationen der Nachkommen in die finanzielle Verantwortung gezogen werden“. Auch über das Strafmaß gibt das Schreiben Auskunft: mindestens 9000 Feinunzen Gold.

Heike Werding hat der Kanzlerin eine Einspruchsfrist von 72 Stunden eingeräumt. Es kam keine Antwort. Die geeinten Völker und Stämme deuten das als Zeichen, dass sie im Recht sind.

Ihr Weltbild stützt sich auf eigenwillige Auslegungen von alten Gesetzestexten, internationalen Verträgen und Youtube-Videos. Vereinfacht ausgedrückt glauben die geeinten Völker und Stämme, die Deutschen würden derzeit wie Waren behandelt. Um wieder als Mensch anerkannt zu werden, müsse jede Person die Ahnennachweise des Vaters, Großvaters und Urgroßvaters auftreiben. Erst dann könne sie den Grund und Boden, auf dem sie lebt, „aktivieren“ und zum Teil eines echten Staats machen.

Angela Merkel? Helmut Kohl? Recep Erdogan? Alles Juden!

Das "Reichsbürger"-Problem wurde lange unterschätzt, sagen Experten.
Das "Reichsbürger"-Problem wurde lange unterschätzt, sagen Experten.

© Patrick Seeger/dpa

In Berlin und Umgebung ist die Gruppe noch nicht lange aktiv. Das liegt daran, dass Heike Werding erst im November 2016 hergezogen ist. Zuvor lebte sie im Landkreis Osnabrück. Im Rathaus ihrer Heimatstadt Melle erinnert man sich noch eindrücklich an Werding. Die Frau, die sich auch als „lebendige Heike, Weib aus der Familie Werding“ ausgibt, schrieb regelmäßig Briefe, einmal wollte sie im Rathaussaal mit ihren Leuten eine Sitzung abhalten. Seit sie weggezogen ist, herrsche Ruhe.

Von Berlin-Steglitz aus lässt sich der Aufbau der Gruppe besser organisieren. Alle vier bis sechs Wochen, heißt es, reisen die selbsternannten Bürgermeister an, um sich zu beraten. Wie viele es sind, verrät die Gruppe nicht. Aber die Liste ihrer „aktivierten Gebiete“ ist lang: Allein in Brandenburg seien dies die Kreise Osthavelland, Ruppin, Niederbarnim, Teltow und Luckau. Angeblich wurden bereits in sämtlichen Regionen des einstigen Deutschen Reichs Gemeinden aktiviert. Seit Kurzem sei auch Österreich dabei.

Um ihr Wissen zu streuen, bietet Werding Vorträge an. Zum Beispiel den Workshop „Rechtskreise der Bodenrechte“ im März in Berlin, in dem sie zwei Tage lang „aktuelle Kenntnisse zur Sicherung der Bodenrechte in der Gemeinde und im Privatbereich“ vermitteln wollte. Teilnahmegebühr 550 Euro, „Frühstück und Hotelzimmer sind selbst zu buchen“.

Sie glauben, sie handelten selbstlos

Im Café redet Heike Werding sehr schnell und sehr viel. In jedem Satz steckt Dringlichkeit. Wenn Sahr zu Wort kommt, stimmt er meistens seiner Chefin zu. Einmal nimmt er sie in den Arm und sagt: „Wir sind eine friedliche Einheit und kämpfen für das große Wir - für uns Deutsche.“

Im Fantasiekosmos der geeinten Völker und Stämme werden die Menschen in Deutschland seit Ewigkeiten unterdrückt. Vor allem von Juden und ihren Helfern. Hans Sahr sagt: „Die Juden machen sich ihre Hände nicht schmutzig, die nehmen sich immer welche, die für sie die Drecksarbeit machen.“ Angela Merkel halten sie für eine Jüdin. Helmut Kohl, Christoph Kolumbus, Recep Erdogan? Alles Juden. Das 1871 gegründete Deutsche Reich sei ein Staat „von Juden für Juden“ gewesen, die Flagge eine „Judenflagge“. Juden seien eine eigene Rasse mit eigenem Körperbau, Adolf Hitler sei der Enkel des jüdischen Bankiers Nathan Mayer Rothschild gewesen... Je länger man Vertretern der geeinten Völker und Stämme zuhört, desto stärker wird der Eindruck, dass die Menschen, die da vor einem sitzen, nicht bloß unter einem imaginierten Weltbild, sondern auch unter sehr ernsten persönlichen Problemen leiden. Und man stellt sich die Frage, ob man dann überhaupt über sie berichten oder sie nicht besser vor sich selbst schützen sollte. Andererseits haben Reichsbürger massiven Zulauf. Bücher werden gekauft, teure Seminare gebucht, Verschwörungstheorien verbreitet. Muss man vor diesen Menschen nicht warnen? Und sollte man sie dafür nicht auch ausreden lassen?

Bei Hans Sahr fing es vor drei Jahren an. Er sagt, er habe eine Operation am Fuß gehabt, diese sei schiefgelaufen, der Fuß habe sich entzündet, weitere Eingriffe wurden nötig. Deshalb verließ Sahr ein Vierteljahr lang kaum das Haus, saß im Rollstuhl. Um der Langeweile zu entgehen, habe ihm ein Bekannter ein Buch vorbeigebracht. Sahr nennt es bloß „Das schwarze Buch“, der offizielle Titel lautet „BRD GmbH“, ein Standardwerk deutscher Reichsbürger. Hans Sahr sagt, er habe das Buch dreimal gelesen, so fasziniert war er. „Da stand vieles drin, was ich nicht wusste.“ Nach seiner Genesung suchte er Gleichgesinnte und landete schließlich bei einem Vortrag von Heike Werding. Geplant waren zwei Tage in einem angemieteten Seminarraum in Siemensstadt. Als der Betreiber des Ladens mitbekam, wer da seinen Raum gebucht hatte, warf er sie raus. „Das gefiel mir“, sagt Sahr. Er sei einer, der sich nicht so schnell unterkriegen lasse, das sei schon zu DDR-Zeiten so gewesen. Die Gruppe zog in die Gaststätte nebenan, und Heike Werding fuhr mit ihrem Vortrag fort.

Gelegentlich fängt es mit den Fernsehgebühren an

Beim Verfassungsschutz heißt es, Biografien wie die von Hans Sahr seien typisch für die Reichsbürgerszene. Oft handele es sich um Menschen in Krisen, mal sei der Grund eine Krankheit, mal Schulden, mal Einsamkeit oder die Suche nach Halt. Gelegentlich reiche schon der Impuls, keine Fernsehgebühren mehr zahlen zu wollen. Interessierte gerieten dann in eine Blase, in der nur noch die Behauptungen anderer Reichsbürger und im Internet zusammengesuchte Verschwörungstheorien zählten. Laut Sicherheitskreisen verfügen bundesweit 1000 Reichsbürger über eine Waffenbesitzkarte. Der Mann, der am Montag in Nürnberg wegen Mordes verurteilt wurde, hatte 30 Schusswaffen zu Hause gebunkert. Insgesamt 900 Reichsbürger gelten als rechtsextrem. Der Verfassungsschutz Berlin sieht Anzeichen dafür, dass es sich auch bei den geeinten Völkern und Stämmen um eine „rechtsextremistische Reichsbürgerbestrebung“ handelt.

Hans Sahr lebt in Leegebruch, einer Gemeinde im brandenburgischen Landkreis Oberhavel nahe der A10. Neben seiner Rolle als Gerichtsvollzieher hält er sich auch für den „stellvertretenden Magistrat der Stadtgemeinde Oranienburg im Notstand“. In dieser Funktion hat er diverse Briefe verschickt. An den Bundespräsidenten, den Bundesfinanzminister, die Potsdamer Landesregierung, mehrere Polizeipräsidenten. „Die reagieren nicht auf uns, weil sie wissen, dass sie uns nichts können“, sagt er. 2018 will er aufhören, Steuern zu zahlen. Erst mal werde er nur die Grundsteuer verweigern.

Für seinen Job als Gerichtsvollzieher haben ihm die geeinten Völker und Stämme einen Beamtenausweis ausgestellt. Hans Sahr würde ihn gern zeigen, aber hat ihn heute zu Hause liegen lassen.

Ihr Fantasie-Gericht setzt sich für Horst Mahler ein

Sichergestellte Waffen von Reichsbürgern im Polizeipräsidium in Wuppertal im November 2016.
Sichergestellte Waffen von Reichsbürgern im Polizeipräsidium in Wuppertal im November 2016.

© dpa

Natürlich lehnen sie auch die Gerichte der Bundesrepublik ab. Wer dort Urteile fälle, sei Söldner der Firma. Um endlich wieder ordentliches Recht sprechen zu können, haben Heike Werding und ihre Mitstreiter seit Jahresbeginn bundesweit 50 eigene Amtsgerichte gegründet - dazu in Berlin ein „Höchstes Gericht“. Wo genau das tagt, wollen sie nicht verraten. Im Juli hat es angeordnet, die Bundesrepublik müsse den inhaftierten Holocaustleugner Horst Mahler freilassen. Die Verantwortlichen, die ihn ins Gefängnis gesteckt hätten, müssten mit einer Anklage wegen „Amtsanmaßung und dem Missbrauch von Amtstiteln“ rechnen.

Wie will die Gruppe ihre Ziele durchsetzen, so ganz ohne eigene Polizei und Militär? Simple Antwort: Sie wollen die Polizei davon überzeugen, dass diese im Ernstfall nicht den Regierenden der BRD, sondern ihnen zu gehorchen habe. Die Generalbevollmächtigte Werding zieht eine farbige Hochglanzbroschüre mit dem Titel „Berliner Bürger sichern Polizeiarbeit“ hervor. Mit der seien sie zu verschiedenen Dienststellen gegangen und hätten Beamte angesprochen. „Wir klären die jetzt auf, damit die Bescheid wissen“, sagt Hans Sahr. Die Berliner Polizei bestätigt, dass Beamten diese Broschüre zugesteckt wurde. Ob die Inhalte strafrechtlich relevant seien, werde noch geprüft.

Potpourri der Verschwörungstheorien

Im Café am Fehrbelliner Platz packen die Selbstverwalter weitere Wahrheiten aus. Zum Beispiel: An deutschen Schulen werden satanische Inhalte gelehrt. Frauen tragen die DNA aller Männer in sich, mit denen sie geschlafen haben. Angela Merkel bekommt von Banken für jeden Flüchtling, dem sie einen Pass ausstellt, zehn Millionen Euro. Kaugummis können das Gehirn zersetzen. Impfen ist gefährlich. Hans Sahr hat den Beweis: „Meine Nichte ist nach einer Mehrfachimpfung schwer erkrankt.“ Er fragt, ob die Flut an Informationen vielleicht zu viel ist für ein einziges Treffen. Ob sein Gegenüber noch hinterherkomme. Zum Glück läuft ja das Tonband mit, so geht nichts verloren.

Also, es gebe da noch ein Problem. Um das zu verstehen, müsse man die Bibel deuten können. Zum Beispiel habe Adam in Wahrheit keinen Apfel gegessen, vielmehr habe Eva Geschlechtsverkehr mit Tieren gehabt. Und im Himmel habe später eine epische Schlacht stattgefunden, in der die Engel reptiloide Schlangenwesen besiegt hätten. Letztere seien dann auf die Erde geworfen worden. Die Reptiloiden, die Böses wollten, nähmen die Gestalt von Menschen an. Beweisfotos gebe es im Internet. Die Queen sei auf jeden Fall ein Reptiloid. Hans Sahr ist sich nicht ganz sicher, ob Angela Merkel nur Jüdin oder auch reptiloid sei. Theoretisch sei beides möglich, sagt er.

Verhinderte Schlüsselübergabe

Am vergangenen Donnerstag, genau eine Woche nach Sahrs erstem Besuch im Rathaus Zehlendorf, ist der Gerichtsvollzieher erneut vorstellig geworden. Diesmal brachte er zwei Mitstreiter mit. Um Punkt elf klopfte er an die Tür des Sekretariats der Bezirksbürgermeisterin, wie angekündigt forderte er die Herausgabe der Schlüssel. Weil die Rathausmitarbeiter nach Sahrs erstem Auftritt die Polizei informiert hatten, waren diesmal Beamte vor Ort. Die drei Störer wurden zum Landeskriminalamt in Tempelhof gebracht und erkennungsdienstlich behandelt. Sie blieben friedlich. Auf dem Revier hätten sie dann viele gute Gespräche mit Beamten geführt. Und erfahren, dass sie absolut im Recht seien. So verstörend die Gedankengänge der geeinten Völker und Stämme auch sind, eine Fähigkeit kann man ihnen nicht absprechen. Sie schaffen es, jede Niederlage und jede Abfuhr in einen Sieg umzudeuten.

Das Zehlendorfer Rathaus sei erst der Anfang, sagt Hans Sahr. „Wenn wir das haben, kriegen wir alle.“ Er glaubt allerdings nicht, dass die Welt so schnell von ihrem Wirken erfahre. Von all dem, was er im Café offengelegt habe, werde es am Ende leider kein Wort in die Zeitung schaffen. „Ihre Chefredakteure werden das verhindern.“ Die würden schon aufpassen, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt.

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