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Ein literarischer Rückblick: Heldin Louise wird in den Alpen groß und zieht dann in die Großstadt.

© dpa

Sylvie Schenks neuer Roman „Schnell, dein Leben“: Ein langer Wimpernschlag

Zwischen Deutschland und Frankreich: Sylvie Schenk erzählt in ihrem Roman „Schnell, dein Leben“ von einem Leben in zwei Heimaten.

Sylvie Schenk scheint in Eile gewesen zu sein, als sie dieses Buch schrieb, als sie sich, das wird bei der Lektüre zunehmend offensichtlicher, mit der eigenen Lebensgeschichte literarisch befasste: „Schnell, dein Leben“ heißt ihr Roman. Und doch ist dieser Atemlosigkeit andeutende, an Peter Kurzeck und sein litaneihaftes „Schreib weiter! Schreib schneller!“ erinnernde Titel nur ein Kunstgriff, ein vielsagender, die Erzählstruktur gut kennzeichnender. Knapp 160 Seiten hat „Schnell, dein Leben“ und ist unterteilt in recht kurze Kapitel, die gerade am Anfang oft nur ein, zwei oder drei Seiten umfassen und überschrieben sind mit „Mädchen“, „Die Moral“, „Das Lesen“, „Henri“, „Johann“ oder „Die Welt“.

Es geht wirklich flott durch dieses Leben, aber mit einer großen Klarheit und Intensität. Sylvie Schenk erzählt von dem Erwachsenwerden ihrer Heldin Louise in einem Dorf in den französischen Alpen in den fünfziger Jahren, von den engen Verhältnissen dort, von ihrem Wunsch, lieber ein Junge zu sein, von ihrer Familie, in die sie hineingeboren wird: von der des Vaters, die eine angesehene, bürgerliche, vor allem in Lyon beheimatete ist. Und von der Familie der Mutter, die ein Geheimnis umweht, denn Louises Mutter ist ein Adoptivkind. Ja, und schon studiert Louise in Lyon Latein, Griechisch und Literatur, trifft in der Jazzkneipe „Les Deux Pianos“ eine Gruppe von Gleichaltrigen, Gleichgesinnten, mit denen sie sich anfreundet: Francine, Claudie, Ahmend, Soon, Johann und Henri.

Gerade die beiden Letzteren spielen eine große Rolle in ihrem Leben: Johann, der aus Deutschland stammt und in Lyon Chemie studiert, wird ihr Mann werden, sie geht mit ihm in die Bundesrepublik. Und die Eltern von Henri, mit dem Louise ihr erstes Liebesverhältnis hat, sind von den Nazis umgebracht worden. Henri wird ihr in späteren Jahren noch hinterbringen, welche Schuld Johanns von ihr so überaus geschätzter und gebildeter Vater im Zweiten Weltkrieg auf sich geladen hat.

Schenk las dieses Jahr beim Bachmann-Preis

Sylvie Schenk, geboren 1944 in Chanbéry, einer kleinen Stadt in den französischen Alpen, studierte Mitte der sechziger Jahre in Lyon Altphilologie und Französisch, kam 1966 nach Deutschland und hat zahlreiche, hierzulande allerdings nur wenig beachtete Romane veröffentlicht, zuletzt „Bodin lacht“ im österreichischen Picus Verlag. In diesem Jahr wurde ihr vom deutschen Literaturbetrieb größere Aufmerksamkeit zuteil. Schenk las beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt kleinere Stücke aus ihrem Roman, konnte die Jury aber nicht überzeugen: nicht die Kleinteiligkeit des Romans, nicht die Sprache und insbesondere auch nicht der historische Hintergrund, der die Jury in seiner Darstellung an ein Schul- oder Geschichtsbuch erinnerte. Im Nachhinein nimmt sich diese Kritik seltsam aus, so reich an Stoff ist „Schnell, dein Leben“, so souverän gestaltet Schenk diesen, so ruhig und unaufgeregt und ohne ein Wort zu viel, so dezent sind die Geschichte und die Zeitläufte hier eingearbeitet.

„Schnell, dein Leben“ erzählt die Geschichte des Lebens einer Frau zwischen Deutschland und Frankreich; eine Lebensgeschichte, die sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Gräuel des Zweiten Weltkriegs und der freundschaftlichen Annäherung beider Nationen entrollt, vor dem des deutschen Wirtschaftswunders, des Algerien-Kriegs und der 68er-Bewegung. Louise ist die kleine, niedliche, „charmante“, aber durchaus feministisch geschulte Französin, ihre Umgebung nach der Heirat eine mitunter typisch deutsche, voller Klischees beschriebene. Nur stimmen diese Klischees eben alle, von den Essgewohnheiten der Deutschen (abends kalt, Brot mit Aufschnitt) bis zu ihren Begrüßungsritualen: Schön die Hand geben! Dagegen die Franzosen: Küsschen rechts und links! Ungezwungenheit versus Distanz.

Sylvie Schenk hat für ihren Roman eine ungewöhnliche, ebenfalls im Titel aufscheinende Perspektive gewählt: die zweite Person Singular. Das liegt womöglich an einer ihr eigenen Dezenz, vielleicht auch ihrer Angst, sich selbst zu nahezukommen, Das Du verschafft ihr eine Nähe aus der Halbdistanz, nicht zu persönlich wie im Fall der Ich-Erzählung, nicht zu distanziert wie der auktorialen. Die Perspektive jedenfalls wirkt stimmig (und hat beim Lesen etwas enorm Eindringliches), selbst dann noch, als zum Schluss des Buches ihr deutscher Ehemann in den Fokus gerät und in ein paar Kapiteln porträtiert wird: „Damals, sein Leben“. Was nicht nur wegen der bis heute haltenden Ehe Sinn ergibt, sondern auch weil Louise beim Stöbern im Bücherschrank ihres Schwiegervaters entdeckt, wie eng das Schicksal von Henris Eltern mit Johanns Vater verknüpft war.

Ein Buch von literarischer Dauer

Was für Koinzidenzen! So etwas muss einfach erzählt werden, selbst wenn es vermeintlich schnell ist. Aus einer gleichfalls sicheren Distanz heraus, vermittelt durch den Traum eines von Louises Freunden, weist Schenk noch einmal darauf hin, wie kurz ein Leben bei so einem Draufblick sein kann, „mein Leben, unser Leben“. Das erinnert an den Wimpernschlag zwischen zwei Ewigkeiten, mit dem Vladimir Nabokov sein Leben zu Beginn seines autobiografischen Buches „Erinnerung, sprich“ verglichen hat – und doch gelingt es Sylvie Schenk, diesem Wimpernschlag eine schöne literarische Dauer zu verleihen.

Sylvie Schenk: Schnell, dein Leben. Roman. Hanser Verlag, Frankfurt 2016, 160 Seiten, 16 €.

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