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"Fabriken bei Clichy" von Vincent van Gogh

© Van Gogh Museum Amsterdam

Amsterdam zeigt „Van Gogh entlang der Seine“: Im Schatten der Gasometer

Naturmotive sind häufig im Impressionismus, doch zur selben Zeit intensivierte sich auch die Industrialisierung. Van Gogh sah auf seinen Fußwegen an der Seine beide Seiten, und malte auch beides.

Von Bernhard Schulz

Als die Eisenbahn gebaut wurde, konnte man weit hinaus ins Grüne fahren, wenn auch nur jener Teil der Gesellschaft, der als Mittelklasse mit einem Mal „Freizeit“ jenseits der Arbeit zur Verfügung hatte. Die „besseren Kreise“ verbrachten Wochen in der Sommerfrische, die weniger Betuchten konnten zumindest am Sonntag hinausfahren.

Davon handeln viele Bilder der Impressionisten. Sie erzählen von Freizeit in blühender Natur. Doch die radikale Modernisierung, die auch die Eisenbahn hervorbrachte, hatte ihre Kehrseite. Denn das 19. Jahrhundert war in seiner zweiten Hälfte das der Industrialisierung, der Verstädterung, der gesellschaftlichen Umwälzungen und auch das der Verelendung, auch und zumal in Paris.

An der Seine, die sich in idyllischen Bögen durch und um die Stadt windet, wuchsen Gasometer und Schornsteine in die Höhe. Als Vincent van Gogh bei seinem Bruder Theo in Paris lebte, ging er 1887 während dreier Monate beinahe täglich zu Fuß dorthin, wo sich am Fluss lauschige Natur und rußende Industrie begegneten, und malte beides. Rund 40 Gemälde entstanden.

Auf der Suche

Der Niederländer war Mitte dreißig und immer noch auf der Suche. In seinem Umkreis zog es jüngere französische Künstler an die Seine bei den Vororten Asnières, Clichy und wie sie alle hießen, die bald Teil wurden der wuchernden Metropole. Die Naturlandschaft, die die Impressionisten Jahre zuvor gemalt hatten, war im Verschwinden begriffen, durchschnitten von Eisenbahnstrecken, überbaut von Brücken, besetzt von Fabriken.

Eisenbahnbrücke in Asnières.

© Van Gogh Museum

Es ist nur die kurze Zeitspanne um 1887 herum, die die Ausstellung des Amsterdamer Van Gogh Museums unter dem Titel „Van Gogh entlang der Seine“ zum Gegenstand hat, mit Bildern des Holländers wie von Paul Signac, Georges Seurat, Emile Bernard und Charles Angrand. Sie bildeten, anders als die älteren Impressionisten, keine Künstler- und Ausstellungsgemeinschaft, sondern waren lose verbunden, im Grunde nur durch die Örtlichkeiten an der Seine, die sie frequentierten und deren alltägliche Motive ihnen zum Malen genügten.

Seurat und Signac ging es mehr darum, ihre neuartige, theoretisch begründete Malweise zu erproben, das Malen mit Strichen und Punkten, die erst im Auge des Betrachters zu den erwünschten Farbklängen verschmolzen.

Von dieser, alsbald „Pointillismus“ genannten Malweise, war van Gogh eher nur am Rande berührt. Was er mit den Kollegen teilte, war die bemerkenswerte topografische Genauigkeit seiner Darstellungen. Vor allem die zu dieser Zeit bereits zahlreichen Brücken über die Seine bilden die Anhaltspunkte, anhand derer die Standorte der Maler rückblickend bestimmt werden können, neben den erwähnten Gasometern, die gleichfalls auf zahlreichen Bildern auszumachen sind, und sei es nur als feines Gittergespinst. Die Kuratorinnen Jacquelyn Coutré und Bregje Gerritse breiten diese Forschungsarbeit im Ausstellungskatalog aus, der für Historiker der Epoche künftig unverzichtbar sein wird.

Alles wird hell und licht

Van Goghs Malweise wandelt sich rasch und grundlegend. Sein allererstes Bild dieser Monate ist noch der dunkeltonigen Schule von Barbizon verhaftet. Dann wird alles hell und licht; auch wenn manche Bilder im Lauf der Zeit nachgedunkelt sind.

Die Naturlandschaft, überbaut von Eisenbahnbrücken. Vincent van Gogh: Bridges Across the Seine at Asnières, 1887.

© Emil Bührle Collection, on long-term loan at the Kunsthaus Zürich

Das gilt besonders für die drei Triptychen, die van Gogh als Summe seiner Pariser Monate gemalt hat, jeweils auf einer durchgängigen Leinwand, die er nach Fertigstellung in drei selbständige Gemälde zerschnitt. Er wollte sich als Landschaftsmaler beweisen und vereinte unterschiedliche Motive von Fluss, Brücke und Wiesen. Sieben der neun heutzutage auf ebenso viele Sammlungen verteilten Einzelbilder konnten für die Ausstellung ausgeliehen werden. Die Schwierigkeiten der Ausleihe müssen überhaupt groß gewesen sein.

Immerhin kam als ein Hauptwerk van Goghs anspruchsvolle Ansicht der „Brücken über die Seine bei Asnières“ aus Zürich herbei, wie auch aus Australien Paul Signacs „Gasometer in Clichy“ von 1886, eines der Werke, mit denen die künftigen Pointillisten in jenem Jahr bei den Impressionisten auftraten. Die Sensation dieser achten und letzten Gemeinschaftsausstellung jedoch, Georges Seurats Großformat „Sonntag auf der Insel Grande Jatte“, ist zu fragil, um das Art Institute von Chicago verlassen zu können.

Dafür sind Vorstudien und exquisite Bleistiftzeichnungen Seurats zu sehen. Überhaupt ist es ein großes Plus der Amsterdamer Übersicht, die unterschiedlichen Arbeitsstadien der Maler deutlich zu machen. Naturgemäß steht van Gogh im Mittelpunkt, nicht als Einzelgänger, sondern im Austausch mit Gleichgesinnten. Sie nahmen die Orte und Objekte, die sie sahen, zum Material für ihre Kunst und, im Sinne des berühmten Worts von Baudelaire, als „Maler des modernen Lebens“.

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