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Ein altes Munitionslager in der Nähe könnte explodieren.

© Gaetan Bally/KEYSTONE/dpa

Aus dem Zweiten Weltkrieg: In einem Schweizer Dorf liegen 3000 Tonnen Munition

Im Berner Oberland liegen Tausende Tonnen Munition verschüttet, deren Räumung Milliarden Euro kostet. Die Bewohner müssen nun ihre Heimat verlassen.

Von Jan Dirk Herbermann

Die Menschen in dem beschaulichen Schweizer Dorf Mitholz leben schon seit Jahrzehnten neben einer Zeitbombe: Nur hundert Meter von einigen Häusern entfernt und etwas höher als das Dorf breitet sich ein verschüttetes Munitionslager der Schweizer Armee aus dem Zweiten Weltkrieg aus. Rund 3000 Tonnen Bomben, Minen und Granaten liegen in dem Felsgebiet, das die knapp 200 Dörfler „unter der Fluh“ nennen. In dem unterirdischen Militärdepot hatten vor 75 Jahren heftige Explosionen die Sprengkörper mit Gestein, Geröll und Schutt begraben – und sie somit unsichtbar und kaum erreichbar gemacht.

Jetzt will die Regierung in Bern die Räumung des verseuchten Gebiets in Angriff nehmen und hat Gelder für das mehrjährige Projekt beim Parlament beantragt: Das Kabinett veranschlagt sage und schreibe 2,59 Milliarden Franken (mehr als 2,6 Milliarden Euro) für Schutzbauten, Munitionsbergung, Entsorgung, Instandsetzung und Entschädigungszahlungen. „Mit der Räumung will der Bundesrat die Grundlage für eine sichere und attraktive Zukunft für Mitholz schaffen“, versicherten die Minister vor wenigen Tagen.

Gleichzeitig versprach man eine „enge Abstimmung“ mit Menschen und Behörden in dem Risikogebiet. Roman Lanz, der Bürgermeister von Kandergrund, zu dem das besonders betroffene Dorf Mitholz gehört, lobt die Entschlossenheit: „Die Regierung hat eine sehr starke Botschaft ausgesendet und sie meint es somit ernst mit der Hilfe.“ Lange hatten Politiker und Militärs die Dörfler im Berner Oberland im Unklaren über die hochexplosiven Rückstände gelassen. Die Verantwortlichen versicherten, dass keine wirkliche Gefahr von dem Arsenal ausgehe. Neue Detonationen? Wenn überhaupt, dann nur ein paar harmlose Erschütterungen, hieß es. Die Armee unterhielt auf dem Areal eine Apotheke und eine Truppenunterkunft. Geplant war sogar, ein Rechenzentrum zu errichten.

Die sichtbare Munition macht weniger als ein Prozent der gesamten zu räumenden Menge aus

Patrick Folly, Chemiker

Erst 2018 rang sich die Regierung dazu durch, den „lieben Bewohnern“ von Mitholz reinen Wein einzuschenken. Der damalige Verteidigungsminister Guy Parmelin reiste an und eröffnete seinen Zuhörern, dass „ein höheres Risiko für eine Explosion als bisher angenommen“ bestehe. Die Schweizer Regierung nehme die Lage „ernst“. Der Minister ließ die Armee-Apotheke und die Truppenunterkunft schließen, das Rechenzentrum wurde nicht gebaut.

Sofortmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung seien aber nicht angedacht, stellte Parmelin klar. „Es ist nicht nötig, das Dorf zu evakuieren oder die Straße und die Bahnlinie zu sperren.“ Im Februar 2020 waren aus dem Verteidigungsministerium dann andere Töne zu hören: „Nach heutigem Kenntnisstand müssen die Bewohnerinnen und Bewohner von Mitholz während der Räumung je nach Verlauf über mehr als zehn Jahre wegziehen.“

Seitdem haben Bewohner von neun Liegenschaften dem gefährdeten Dorf schon den Rücken gekehrt – freiwillig. Weitere 51 Menschen werden 2025 und 2030 evakuiert. Droht aus Mitholz ein Geisterdorf zu werden? „Nein, das wird nicht passieren, wir Bergler wissen mit Gefahren umzugehen“, erläutert Bürgermeister Lanz. Die Gemeinde habe für die Ausgesiedelten fünf neue Bauzonen außerhalb der Gefahrenzone eröffnet. „Einige Menschen hier empfinden die ganze Geschichte aber auch als unfassbar, nahezu virtuell“, seufzt Lanz.

2,6
Milliarden gibt die Schweizer Regierung für Schutzmaßnahmen und Entschädigungen aus.

Wie konkret die Bedrohung aus dem Berg ausfällt, wissen Kampfmittelexperten. Nach Untersuchungen im Jahre 2018 ging der Chemiker Patrick Folly davon aus, dass „die sichtbare Munition weniger als ein Prozent der gesamten zu räumenden Menge ausmacht“. Zwar sind inzwischen schon einige Geschosse entfernt worden. Doch schätzungsweise bleiben immer noch mehr als 95 Prozent der Munition verborgen. Gutachter für das Verteidigungsministerium warnen: Schon ein Felssturz, ein Blitzeinschlag oder eine Bildung von Kupferazid in Zündern könnte eine Detonation verursachen.

Im schlimmsten Fall würden durch eine Kettenreaktion viele Sprengungen ausgelöst. Dann drohten Erdstöße, Bergrutsche, „Trümmerwürfe“ von Gestein, mächtige Feuerbälle und Umweltschäden. Mitholz hätte sein neues Inferno. Das erste Inferno erschütterte den Ort nach dem Zweiten Weltkrieg. „In den 1940er Jahren schlug die Armee in Mitholz eine riesige Munitionslagerstätte in das Gestein“, erzählt Bürgermeister Lanz. In sechs Kammern lagerten die neutralen Eidgenossen fein säuberlich 7000 Tonnen Militärgeschosse.

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In der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1947 geschah die Katastrophe. Gewaltige Explosionen erschütterten das Stollensystem, in den vorderen Teil prasselten 255.000 Kubikmeter Fels. Die Druckwellen, umherfliegende Brocken und Feuer zerstörten Häuser und den Bahnhof. Neun Menschen starben, etliche erlitten Verletzungen, Vieh verendete. Die Neue Zürcher Zeitung hielt damals fest: „Das Ganze macht den Eindruck einer Ortschaft, über die der Krieg mit Bomben und Artillerie hinweggerast ist.“

Heute existiert fast die Hälfte der damals gebunkerten Munition immer noch, eingeklemmt zwischen Geröll und Felsbrocken. Das explosive Grab von Mitholz wird die Menschen noch einige Jahre bedrohen. Denn die eigentlichen Räumungsarbeiten sollen frühestens im Jahre 2030 beginnen.

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