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Berlin: Bewahrenswerter Blick ins Nichts

Am Bahnhof Grunewald, nahe der Gedenkstätte für die deportierten Juden, soll ein Villenviertel entstehen. Eine Ortsbesichtigung

Still ist es am Bahnhof Grunewald. In einem Jahr werden hier wahrscheinlich die Baumaschinen lärmen. Ganz in der Nähe des Gleises 17, von wo aus Berliner Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden, soll ein neues Villenviertel mit Geschäften und vielleicht einem großen Supermarkt gebaut werden.

„Hier wurden meine Eltern und meine beiden Schwestern zuletzt lebend gesehen“, sagt Isaak Behar. Er entging der Ermordung, weil er zufällig nicht zu Hause war, als die Nazis seine Verwandten abholten. „Sie verschwanden im Nichts“, sagt der 81-Jährige. Deshalb gehört für ihn zum Mahnmal Gleis 17 essenziell dazu, dass sich die stillgelegten Gleise in einer Brache verlieren. Der unverstellte Blick ins Nichts müsse erhalten bleiben. Das hat Behar, der Gemeindeälteste, auch Albert Meyer mitgeteilt, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde.

„Da kann sich etwas sehr Positives entwickeln“, hatte Meyer vergangene Woche gesagt im Zusammenhang mit den Bauplänen in der Nähe des Bahnhofs. Er hat sich mit dem Projektentwickler Aurelis und dem Bezirk geeinigt, dass man das Mahnmal im Zuge der Baumaßnahmen vergrößern und eine zusätzliche Wand errichten könnte mit den Namen der 55000 deportierten Berliner Juden. Wo diese Erinnerungstafel errichtet werden könnte und wo die Lärmschutzwand, die das Mahnmal von den neuen Villen und Geschäften abschirmen soll, versucht Meyer an diesem Freitag zusammen mit dem Charlottenburger Baustadtrat Klaus-Dieter Gröhler (CDU) und dem Leiter des Stadtplanungsamtes des Bezirks, Rainer Latour, herauszufinden. Die drei stehen in dicken Winterjacken neben dem Gleis 17, schauen abwechselnd auf den Bebauungsplan und in die Ferne vor ihnen.

„Wo genau soll die Lärmschutzwand beginnen?“, fragt Meyer. „Da hinten, an dem Haus?“ Er zeigt auf ein mehrstöckiges Gebäude hinter der weitläufigen Brache. „Eher weiter vorne“, sagt Rainer Latour, auch er eingepackt in einen dicken Mantel und Schirmmütze. „Der Container?“, fragt Meyer. Der wäre aber wohl nur 50, vielleicht 100 Meter von den Gleisen entfernt. In diesem Falle würde der Blick nicht mehr weit ausschweifen können. In der Schneelandschaft lässt sich Genaues nicht erkennen.

„Das ist mir zu abstrakt“, sagt Meyer. „Wir werden das Gelände mit Pfählen abstecken und ein genaues Modell bauen“, verspricht Baustadtrat Gröhler, man sei noch in einem sehr frühen Stadium, die Pläne seien noch in zu großem Maßstab. Da keiner der Herren Lust hat, sich auf das Schneefeld hinter den Gleisen zu begeben, vertagt man sich auf einen weniger frostigen Tag. Fest steht für Meyer: „Der Blick ins Weite muss bleiben und darf keinesfalls auf einen Supermarkt fallen.“

Auch Georg Wittwer ist zu dem Ortstermin gekommen. Er war vor der Wende CDU-Bausenator und wohnt in der angrenzenden Trabener Straße. Er hat im Prinzip nichts gegen den Bau einer Villensiedlung, will aber verhindern, dass dafür eine neue zweispurige Straße parallel zur Trabener Straße angelegt wird. Viele Anwohner lehnen den Plan für eine neue Straße ab, weil dafür die Traditionsgaststätte „Floh“ vor dem Bahnhof abgerissen werden müsste. Der Bahnhofsvorplatz wäre ruiniert, fürchtet auch Familie Huth aus der Trabener Straße. Die Huths legen Wert darauf, dass die Stille und der „Blick in die Tristesse“ an Gleis 17 bewahrt wird.

Mit dem Vorschlag von Georg Wittwer sind sie ganz und gar nicht einverstanden. Er möchte, dass die Rampe, die zu dem Mahnmal führt, als Zugangsstraße zu den neuen Häusern ausgebaut wird. So würde die Erinnerung nicht im Abseits stattfinden. „Die neuen Anwohner sollen schließlich wissen, was hier vor 60 Jahren passiert ist.“ Ob er nicht Angst habe, dass die Stille zerstört würde? „Stille?“, fragt Wittwer zurück. „Damals, als die Menschen hier in die Waggons verfrachtet wurden, war es auch nicht still.“ Auch Jürgen Patzschke schlägt vor, die Rampe zur Zufahrtsstraße auszubauen. Er hat seit 30 Jahren an dem Platz vor dem Bahnhof sein Architekturbüro. „Was glauben Sie, welcher Trubel hier herrschte, als ich damals hierher kam?“ Der Güterbahnhof war noch in Betrieb. Patzschke zeigt Fotos, auf denen man Elefanten vor dem Bahnhof sieht. „Da wurden ganze Circusse ausgeladen.“ Das Mahnmal lebe doch davon, dass es an einer Stelle liegt, an der Menschen vorbeikommen.

„Die haben doch ’ne Macke“, sagt Isaak Behar. Die Rampe als Zufahrtsstraße? Für ihn undenkbar. „Da würde ich nicht mitmachen“, sagt auch Albert Meyer. Die FDP in Charlottenburg-Wilmersdorf ist gegen jegliche Bebauung. Die Leere auf dem Gleis 17, die Schlichtheit, der Blick in die Ferne, das alles gebe die düstere Stimmung gut wieder, sagt ihr Vorsitzender Jürgen Dittberner. So soll es auch bleiben. „Da sollte man keine Kompromisse eingehen.“

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