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© IMAGO/Emmanuele Contini

Update

Damit mehr Kinder in ihren Familien bleiben können: Projekt „Familienrat“ wird in Marzahn-Hellersdorf ausgeweitet

Wenn Familien beim Jugendamt auffällig werden, sollen sie selbst bestimmen, wer ihnen hilft. Nach einer Testphase stellt der Senat in Marzahn-Hellersdorf zusätzliche Mittel bereit.

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Marzahn-Hellersdorf ist laut Senat der Bezirk mit den meisten Inobhutnahmen. Das bedeutet, dass dort besonders viele Kinder wegen dringender Gefahr für das Wohl des Kindes aus den Familien genommen werden. Eltern wird dann vom Jugendamt das Sorgerecht entzogen. Auch besonders viele „problembelastete“ Familien leben dort, in denen die Eltern nicht in der Lage sind, angemessen für ihre Kinder zu sorgen – die deshalb stationär untergebracht sind, etwa in betreuten Wohngruppen.

Dank des Modellprojekts „Familienrat“ bessere sich die Situation in Marzahn-Hellersdorf nun erheblich, wie Bezirk und Senat am Donnerstag mitteilten: In einer ausgeweiteten Testphase zwischen September 2022 und Juni 2023 hätten insgesamt 23 „stationäre Unterbringungen vermieden oder vorzeitig beendet werden konnten“. 49 Familien hätten in diesem Zeitraum an dem Modellprojekt teilgenommen.

Die Kosten für 49 Familienräte belaufen sich in diesem Zeitraum auf 108.221,89 Euro. Dies entspreche einem Einsparvolumen von etwa 108.000 Euro pro Monat für stationäre Unterbringung, teilte die Senatsverwaltung mit: „Jährlich können so potenziell insgesamt rund 1,4 Millionen Euro eingespart werden, sofern eine stationäre Unterbringung längerfristig vermieden wird.“

Im Jahr 2023 haben rund 130 Familien das Modell angewendet. „Nachweislich konnte im Bezirk Marzahn-Hellersdorf das Einwirken des Jugendamtes deutlich reduziert und eine Eskalation der familiären Konfliktlagen vermieden werden“, heißt es vom Senat. Und zwar bei 47 Prozent der beteiligten Familien.

Wenn Familien auffällig werden und sich das Jugendamt einschaltet, wird ihnen normalerweise eine Fachkraft zugeteilt. Der Familie wird also von außen gesagt, was sie wie ändern muss. Bei dem Modellprojekt muss die Familie selbst einen Familienrat einberufen und definieren, wer daran teilnehmen soll: etwa die Kitaleiterin, Nachbarn, Freunde oder der Arbeitgeber. Und so selbstständig versuchen, die Probleme zu lösen, etwa wenn die Kinder immer unpünktlich und hungrig in die Schule kommen und verwahrlost aussehen.

Nicht immer ist der Blick von Fachkräften auf die vermeintlichen Problemlagen von Familien das, was wirklich hilft und zu einer Verbesserung der Situation beitragen kann.

Gordon Lemm, Familienstadtrat Marzahn-Hellersdorf

Bei Missbrauch und akuter Kindeswohlgefährdung durch körperliche Gewalt sei das Vorgehen anders, heißt es vom Bezirk: „In solchen Fällen dient der Familienrat als Stabilisierungsinstrument im Hinblick darauf, ob und wann das Kind in die Familie zurückkehren kann.“

Zusätzliche Mittel aus dem Jugendgewaltgipfel

„Unsere Erfahrungen zeigen, dass Hilfen besonders dann wirksam und nachhaltig sind, wenn sie durch die Familien selbst geleistet werden“, sagte Gordon Lemm, Bezirksstadtrat für Jugend und Familie. „Der Familienrat setzt diese Strategie konsequent fort. Nicht immer ist der Blick von Fachkräften auf die vermeintlichen Problemlagen von Familien das, was wirklich hilft und zu einer Verbesserung der Situation beitragen kann. Indem wir Familien aktiv einbinden, lassen sich Ergebnisse erzielen, die passgenau unterstützen, weniger Fachkräfte binden und damit effektiver und günstiger sind.“

„Das Instrument des Familienrates zeigt nachweislich, dass Familien selbstwirksam Konflikte lösen und belastende Lebenslagen mit eigenen Netzwerken bewältigen“, sagte Falko Liecke, Staatssekretär für Jugend und Familie. „Für Kinder und Jugendliche stellen sie eine wichtige Chance dar, in ihrer eigenen Familie zu bleiben.“

Liecke kündigte an, für 2024 und 2025 den Bezirken 2,4 Millionen Euro zusätzlich aus dem Jugendgewaltgipfel zur Verfügung zu stellen, um das Konzept der Familienräte zu verstetigen und flächendeckend auszuweiten. Davon gehe eine Million an Marzahn-Hellersdorf. Um das Projekt dort zu koordinieren, werden zwei Büros von verschiedenen Trägern eingerichtet, eins in Marzahn, eins in Hellersdorf.

Neben Marzahn-Hellersdorf arbeiten auch andere Bezirke mit Familienräten: Friedrichshain-Kreuzberg, Treptow-Köpenick, Lichtenberg, Mitte, Tempelhof-Schöneberg und Neukölln machen es auch, aber teils aus anderen Budgets. Das Projekt werde für alle Bezirke „weiter ausgerollt“, heißt es von der Senatsverwaltung.

Familienräte seien zwar sehr sinnvoll und nachhaltig, aber keinesfalls ein neues Berliner Modellprojekt und Marzahn-Hellersdorf kein Vorreiter auf diesem Gebiet, kritisiert Marianne Burkert-Eulitz, familienpolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus. „Das ist in vielen Bezirken längst Standard in der Berliner Jugendhilfe.“

Mindestens seit 2008 werde die Einführung von Familienräten in Berlin diskutiert. Sie weist darauf hin, dass der ursprüngliche Begriff dafür „Family Group Conference“ lautet und das Konzept aus der Maori-Kultur stamme. Zuerst hätten es neuseeländischen Jugendämter angewendet. „Ich habe schon vor mehr als zehn Jahren um diesen Ansatz gekämpft, der damalige rot-schwarze Senat hielt die Idee für nicht so wichtig“, sagt Burkert-Eulitz. In Friedrichshain-Kreuzberg habe sich der Ansatz aber schon damals durchgesetzt.

„Ich finde es gut, dass das jetzt auch Marzahn-Hellersdorf erkannt hat und danach arbeitet. Sie holen jetzt auf, was andere Bezirke längst machen.“ Sie kritisiert, das Jugendamt in Marzahn-Hellersdorf habe im Vergleich mit den Jugendämtern anderer Bezirke in der Vergangenheit oft erst zu spät bei problembelasteten Familien eingegriffen. „Wenn die Fälle einfach laufen gelassen werden, treibt man die Familien ins Unglück und die Kosten steigen immens.“ Sie habe als Anwältin für Familienrecht oft mit Familien aus Marzahn-Hellersdorf zu tun, deren Kinder aus den Familien genommen worden seien.

Dass durch das Konzept „Familienrat“ Inobhutnahmen verhindert würden, hält sie aber für gewagt. Dazu müsse man sich die Fälle genauer ansehen.

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