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Schlaflos am Küchentisch. Rund um die Uhr. Nicht lustig.

© Getty Images/stock_colors

Fallende Geburtenrate: Ein Hohelied aufs Kinderkriegen – in Berlin und anderswo

„Childfree“ zu sein kommt in Mode. Zur Begründung wird gern auf mangelnde Kitaplätze und teure Wohnungen verwiesen. Unsere Autorin sieht das etwas anders.

Ein Zwischenruf von Susanne Vieth-Entus

Vor einer Woche beim Friseur mit meiner ältesten Schwester. Wir lassen uns Locken machen für die Hochzeit unserer hannoverschen Nichte. Der Mann, der mir die Haare aufdreht, freut sich über das schwesterliche Gekichere.

Seine drei Töchter gehen gerade weniger entspannt miteinander um, erzählt er zwischen zwei Strähnen. Das könne daran liegen, dass sich die drei ein Zimmer teilen müssen. Für einen Friseur sei finanziell nicht mehr als eine Dreizimmerwohnung drin. Jedenfalls stöbere die Jüngere immer in der Schminke der Ältesten. Das gibt jedes Mal Ärger. Er lacht trotzdem.

Drei Kinder in einem Zimmer? So etwas habe ich lange nicht mehr gehört. Aber fremd ist es mir nicht. Unsere Mutter hatte sich bis zur Hochzeit das Zimmer mit ihrer kleinen Schwester geteilt. Meine beiden Schwestern und ich verbrachten die ersten zwölf gemeinsamen Jahre in zwei Zimmern, deren Verbindungstür immer offenstand: die beiden Kleinen im Etagenbett, die Große im Nachbarzimmer. Wir tuschelten bis tief in die Nacht und bewunderten die Lichtreflexe an der Wand, wenn nachts ein Auto die Dorfstraße entlangfuhr und die Hof-Eichen beschien.

Warum ich das jetzt hervorkrame? Vor ein paar Wochen las ich etwas über eine Art Bewegung, die sich „Childfree“ nennt: „Frei von Kindern“ zu sein, eint die Unterstützer, die zusammen Argumente dafür sammeln, keine Kinder zu bekommen. Die Protagonisten, Zoë Noble und James Glazebrook, die weltweit etwa 70.000 Follower haben, sind keine verstockten Ideologen.

Sie haben nur einfach für sich festgestellt, dass sie keine Kinder wollen und dass sie ein Forum für Gleichgesinnte schaffen können. Das passt zu Berlin, wo die Geburtenrate gerade auf den Stand von 2010 gesunken ist. In Zahlen: Es kamen 2022 rund 3500 Kinder weniger als im Vorjahr zur Welt.

Hiobsbotschaften haben Konjunktur

Das ist ein anregendes Thema für Redaktionskonferenzen oder Abende beim Wein, denn immer wollen ein paar der Umsitzenden ihre persönlichen Hiobsbotschaften in Sachen „Kinder“ loswerden. Die eine hat monatelang keinen akzeptablen Kitaplatz gefunden, die andere muss ihre Tochter wegen Personalmangels ständig vorzeitig aus der Krippe abholen und der nächste tut seit der Geburt seines ersten Kindes kein Auge zu. Zwei Jahre sind schon rum. „Kinderfrei“ klingt da attraktiv.

Zoe Noble und James Glazebrook haben die Bewegung „childfree” begründet.

© Zoë Noble Photography

Als nächstes wird in diesen Runden auf Berlin geschimpft. Das mit den ständig eingeschränkten Kita-Öffnungszeiten sei ja schon schlimm genug. Aber in Berlin eben noch viel schlimmer, weil es hier kaum Großeltern gibt, die einspringen können. Die wohnen zwischen Pirmasens und Peine und sind nicht zur Stelle, wenn man sie braucht. Brutal das.

Stimmt. Brutal ist es, 1000 Nächte lang mit dem Kind auf dem Arm durch die Wohnung zu taumeln und keine Großeltern sind da, die mit ihrem Enkelkind spazieren gehen, damit die armen Eltern Schlaf nachholen können.

Zwei oder drei Jahre ohne Schlaf sind Peanuts, wenn man bedenkt, dass die mittlere Lebenserwartung bei 80 Jahren liegt.

Tagesspiegel-Redakteurin Susanne Vieth-Entus

Die Leserin und der Leser ahnen wahrscheinlich schon, dass jetzt das große Aber folgt. Stimmt. Denn zwei oder drei Jahre ohne Schlaf sind Peanuts, wenn man bedenkt, dass die mittlere Lebenserwartung bei 80 Jahren liegt. Da man relativ jung ist beim Kinderkriegen, hat man sich nach etwa einem Jahr so weit erholt, dass man der Kita- oder später auch der Schulsuche gewachsen ist.

Denn zur nicht brutalen, sondern angenehmen Wahrheit gehört eben auch, dass es in Berlin viel leichter ist als in Pirmasens und Peine, eine Betreuung zu finden: In Berlin gab es schon lange Ganztagsplätze, als man sich in, sagen wir, Pattensen, noch zwischen einem Vormittags- und Nachmittagsplatz entscheiden musste.

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Ich weiß, an dieser Stelle bekomme ich Ärger, habe ja selbst 100 Mal über den Berliner Kitamangel berichtet. Aber in anderen Teilen des Landes ist das Problem wesentlich größer. In Berlin gibt es im Verhältnis nämlich nicht nur mehr Kita- und Hortplätze als im Bundesschnitt, sondern sie wurden seit 2007 sogar nach und nach bis zu dritten Klasse kostenlos.

Wer den Vergleich mit Pattensen unpassend findet, da Berlin nicht ebenbürtig, werfe einen Blick zurück: Bis zur Wende war es in Westberlin kaum möglich, einen Kitaplatz zu bekommen. In Ostberlin hatte man umgekehrt das Problem, dass man – fast bis zur Wende – das Kind mit wenigen Wochen in die Kita bringen musste, um nicht länger als Arbeitskraft auszufallen. Die gefürchteten Wochenkrippen inklusive.

Keiner behauptet, dass es einfach ist

Die Westberliner Eltern machten aus der Betreuungsnot eine Tugend und gründeten eigene Kitas. Um diese „Elterninitiativkindertagesstätten“ finanzierbar zu halten, war die Betreuungszeit eingeschränkt. Unsere machte um 16 Uhr zu, freitags schon um 14.30 Uhr. Jahrelang musste der große den kleinen Bruder abholen. Eine der wenigen Berliner Großmütter in unsererer Klasse jonglierte die Kinder später täglich von der Schule in den – damals noch externen – Hort, weil auf dem Weg der Drogenstrich lag. Alles eine Frage der Organisation.

Klingt im Rückblick wie „Mutter erzählt vom Krieg“, war auch tatsächlich nicht lustig. Unter „nicht lustig“ sind auch die Hausaufgaben nach der Arbeit am späten Abend und unter Umständen auch die Jahre zwischen 13 und 16 zu verbuchen. Und dennoch: zwischendurch gibt es ja massenweise Sternstunden. Sie sind zahllos.

Und dann gibt es irgendwann hannoversche oder Berliner Hochzeiten, auf denen die Tanzfläche voll ist mit lauter erwachsenen Kindern – den eigenen, den Neffen, den Nichten, den Töchtern und Söhnen der Cousins und Cousinen. Noch Fragen?

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