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Georgios Vardakis

© privat

Nachruf auf Georgios Vardakis: Ins Bürgerliche!

Mit 19 reiste er „nach Europa“. Schließlich dachte er deutsch und fühlte griechisch

Ein junger Mann reiste im Frühsommer 1954 von Chania, einer Stadt im Nordwesten Kretas, nach Wien. Er reiste, wie er und seine Familie zu sagen pflegten, nach Europa. Was den Außenstehenden doch ein wenig verwundern muss, da er weiß, dass hier, auf Kreta, der Sage nach der Ursprung Europas liegt. Denn hierher, genauer nach Matala, im Süden der Insel, entführte der lüsterne Zeus in Gestalt eines Stiers die junge Phöniziertochter namens Europa. Und auf eine Verheißung Aphrodites hin benannte man den gesamten Erdteil nach ihr, mitsamt dem unbedeutenden Rest nordwestlich von Griechenland.

Dem jungen Mann war die Sage einerlei, er empfand Kreta nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Bürgerkrieg als rückständig. Kam ein humanistisch Gebildeter aus seiner Studierstube auf die Insel und erkundigte sich etwa nach Epimenides, konnte es gut sein, dass man ihn zu einem Schuhmacher eine Ecke weiter schickte. Und das Meer ringsum, an dessen Rand so mancher saß, um sehnsüchtige Verse zu schreiben, nannte der junge Mann „meine Mauer“, funkelnd blau zwar, doch schwer zu überwinden. Und überhaupt: Hatte nicht schon sein Großvater Kreta verlassen, um Medizin an der Sorbonne zu studieren. Hatte es seine Familie nicht seit jeher zum Bürgerlichen gezogen, zum gebildeten Westeuropäertum. Mit 19, erzählte Georgios in einem Buch über seine Kindheit und Jugend, habe er mit Freunden der Familie in einem Restaurant gesessen, als ein alter, kleinwüchsiger Mann hereingekommen sei. Er, Georgios, sei von seinem Stuhl aufgesprungen und habe gerufen: „Das ist doch Somerset Maugham.“ Schweigen am Tisch. Wer? Ein englischer Schriftsteller, geboren in Paris. Doch nein, er war es nicht. Georgios entschuldigte sich rasch für die Peinlichkeit, die er seinen Gastgebern bereitet hatte. Aber so funktioniert Distinktion.

Erinnerung an den deutschen Soldat

1954, im Alter von 20 Jahren, ging er also nach Wien. Von Wien zog er nach Göttingen, um Medizin zu studieren und ließ sich im Anschluss als Urologe in Celle nieder.

Natürlich, das sah er schnell, liefen auch die Bewohner dieser niedersächsischen Fachwerkstadt nicht durch die Straßen und dachten über Leibniz’ „beste aller möglichen Welten“ nach. Natürlich hatte er es mit dem einen oder anderen Ressentiment über die „Südländer“ zu tun. Natürlich erinnerte er sich gut an die Besetzung Kretas durch die Deutschen, an die Luftlandeschlacht 1941, 18 Kilometer von Chania, wo er zur Welt gekommen war, an die Toten, an den Hunger. Aber er erinnerte sich gleichermaßen an diesen jungen deutschen Soldaten, der immer wieder von Monschau erzählte, der Eifelstadt, die ihm so fehle, von der Angst, Monschau nie mehr zu sehen. Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, weinte Georgios.

Er mochte Celle. Er baute mit Hannelore, die er in Göttingen kennengelernt hatte, ein Haus mit Garten und Blick auf Wiese und Kühe. Sie bekamen eine Tochter, Christina. Sie arbeiteten gemeinsam in der Praxis, Hannelore war gelernte Medizinisch-Technische Assistentin. Aß er mit Hannelore abends auswärts und ein Patient rief bei ihm zu Hause an, suchte seine Tochter die Nummer des Restaurants im Telefonbuch, richtete ihm die Nachricht des Patienten aus, worauf sich Georgios sofort auf den Weg machte.

Er hatte zwei Kegelrunden: In der ersten versammelten sich nur Ärzte, in der zweiten Richter, Lehrer, Apotheker. Er machte seinen Segelschein, ritt einen Hannoveraner Wallach und spielte Tennis. Er ließ sich an den Wochenenden zum Psychotherapeuten ausbilden, weil er sah, dass eine Reihe vermeintlich urologischer Probleme – Bettnässen, Potenzschwierigkeiten – ihre Ursachen durchaus nicht im Unterleib haben. Er wurde FDP-Mitglied. Er ging ins Theater, die Oper, Konzerte. Es bedeutete Glück für ihn, im Sommer am Hafen von Chania zu sitzen und die FAZ zu lesen.

Georgios besaß einen deutschen Pass. Er dachte deutsch. Und fühlte griechisch.

Ich ziehe nach Berlin!

Zu Hause waren die Dinge auf klassische Weise aufgeteilt in Männer- und Frauenangelegenheiten. So scheint die Sache weniger komplex: Hannelore kümmerte sich selbstverständlich um den Haushalt. Bis sie sich nicht mehr kümmern konnte. Sie starb mit gerade einmal 54 an Krebs. Georgios‘ Schmerz war unermesslich. Er kränkelte. Ein Arzt sagte ihm: Sie sind nicht krank, sie trauern.

Er hatte einen Traum, er träumte, dass sein Haus überflutet wird. Überall Wasser. Helfer kamen, holten ihn heraus, legten ihm eine Decke auf die Schultern und schickten ihn dann weg, um anderen zu helfen. Er wachte auf, das Bild blieb. Eine Decke auf einem einsamen Mann. Nein, das wollte er nicht, das war er nicht.

Georgios verkaufte das Haus und zog in eine Wohnung. Er wurde ein hervorragender Hausmann. Als Christina eines Tages mit schmutzigen Schuhen in ein Zimmer laufen wollte, rügte er sie: Latsch doch nicht überall rum. Früher hätte er sich, seine eigene Person betreffend, eine solche Ermahnung deutlich verbeten.

Er begann, Partnerannoncen zu lesen und antwortete der einen oder anderen Frau.

Er sagte zu Christina: Ich ziehe nach Berlin. Er langweile sich in Celle, wo der Höhepunkt der Woche verlässlich der Donnerstag sei, wenn Tchibo seine Auslagen erneuere.

2010 zog er nach Charlottenburg, 2014 an den Kollwitzplatz, einen Sprung von seiner Tochter entfernt. Er öffnete die Fenster und horchte auf die Kinder des Spielplatzes gegenüber. Schaute samstags auf die Marktbesucher, ging die Treppen hinab und mischte sich unter sie. Er setzte sich zu einer Freundin, die Kirschen aus ihrem Schrebergarten verkaufte, trank ein Glas Wein, plauderte, ein paar Australier kamen vorbei und nannten ihn George. Er besuchte die Seniorenuniversität, die Museen und die Philharmonie. Und er wurde wackeliger.

Doch zwei Wochen vor seinem Tod lief er nochmal den ganzen Weg vom Kollwitzplatz zum Helmholtzplatz, um dort Sushi zu essen.

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