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Adolf Stock

© privat

Nachruf auf Adolf Stock: Mach doch was anderes!

Nicht immer war er der beliebteste Tischnachbar, denn er hasste Small Talk. Er verreiste auch nicht, um sich zu erholen

Schulzeit, Berufsberatung: „Ach, Stock, Sie sind der Sohn vom alten Stock?! Der nächste bitte!“ Es war klar, er würde Bäcker werden wie sein Vater, und in Bad Wildungen bleiben, sein Leben lang, ein Häuschen, ein Garten, wie seine Eltern. Und dann noch dieser Vorname! „Adolf mit f!“ Er hat sich für den Namen nie geschämt. Weil er es besser machen würde. „Schön ist auch“, schrieb er in einem Zeitungsartikel, „dass es keine Tassen, Schlüsselanhänger oder Bierseidel in einschlägigen Souvenirläden gibt, die meinen Namen tragen. Das schützt vor ungebetenen Mitbringseln.“

Er hatte dieses Talent, die Dinge zum Positiven zu wenden. Also ging er auch nicht bei seinem Vater in die Lehre, sondern bei dem renommierten Bäckermeister Becker in Kassel, wo es viele Kunststudenten gab, die dem jungen Adolf schnell den Kopf verdrehten, auf dass er die Blickrichtung wechseln konnte. „Wenn du nicht Bäcker werden willst, mach doch was anderes!“ Also holte er sein Abitur nach, und weil er seine neu gewonnene Freiheit nicht gleich wieder der Bundeswehr opfern wollte, zog er nach Berlin. Erst der Adressänderung wegen und dann dem Studium zuliebe. Germanistik, Politologie und Religionswissenschaft, jene Fächer, in denen nahezu alle Fragen der Revolution, Emanzipation und Transpiration verhandelt wurden, insofern die Befreiung der Sexualität durchaus zum Stundenplan gehörte. Zumindest zu Adolfs.

Eigentlich hatte er Lehrer werden wollen, aber für den Dienst vor der Klasse taugte er nicht. Zu viele Schüler, zu wenig Kreativzeit für den Einzelnen. Also wechselte er in die Erwachsenenbildung, wo er sehr beliebt war, weil er auf einen kleinen, aber lebenswichtigen Unterschied aufmerksam machte, nämlich den zwischen „man sollte“ und „ich sollte“. Nur im letzteren Fall führt das Ich Regie. Das lebte er vor. Er gründete eine Zeitschrift „Literatur und Erfahrung“, in der sehr anspruchsvoll im Stil ambitionierter Selbsterkundung die Autoren ihre Leser verprellten. Er begann, für den SFB kleinere Rundfunkbeiträge zu verfassen, und er vagabundierte in Wohngemeinschaften und Wohnungen umher, bis er endlich seine eigene fand. Und einen Lebensgefährten, den er sehr liebte, und der in seinen Armen starb an Aids, auf jämmerliche Weise, wie viele damals.

„Soll ich die Rosen ins Wasser stellen?“

Danach glaubte er, sich nie mehr verlieben zu können. Bis Matthias kam, viel jünger als er, aber viel entschlossener. Denn nach den ersten Treffen war für ihn klar, dass er mehr wollte. Also erschien er mit einem großen Rosenstrauß. „Musst du hinterher noch irgendwo hin?“, fragte Adolf. „Soll ich die Rosen ins Wasser stellen?“ Er wagte gar nicht, zu begreifen, dass es noch einmal ein lebenslanges Glück geben sollte.

Die beiden zogen zusammen. Schönes Wohnen war nicht teuer, und große Wohnungen garantierten große Partys. Freunde zum Frühstück, Freunde zum Abendessen, Esstische, an denen immer ein Platz frei war. Nicht immer war Adolf der beliebteste Tischnachbar, denn er hasste Small Talk, und ohne ein Adorno-Zitat ließ er ungern einen Abend ausklingen.

Von seinem Vater hatte er kluges Wirtschaften gelernt. Erst Mitte der 90er fasste er den Entschluss, als fester Freier zum Rundfunk zu wechseln. Fortan stellte er seinen Mut durch Fleiß unter Beweis, und durch diese kleinen Perspektivwendungen, die seinen Sendungen immer einen ganz eigenen Ton gaben. Ob sie nun die kleinen Themen betrafen: „Wegradiert – ausradiert. Die Geschichte des Radiergummis“. Oder die großen: Architektur und Städtebau. „Schinkel“ hieß seine Sendung, für die er stolz den Deutschen Preis für Denkmalschutz entgegennahm. Er kuratierte eine Ausstellung über die Geschichte des RIAS-Funkhauses in Berlin, und half mit, das Deutschlandfunk-Hochhaus in Köln unter Denkmalschutz zu stellen, zur Freude aller Architekturbegeisterten, zum Leidwesen der Buchhalter.

Eine schöne Stadt ist ein sehr lebendiges Wesen. Adolf wollte sie alle sehen, alle schönen Städte dieser Welt. Kaum zurück, stand er schon wieder vorm Reisebüro: „Oh, Porto!“ Auf das müde Seufzen von Matthias erwiderte er: „Erholen kannst du dich zuhause!“

Gemeinsam zogen sie auf den Spuren der Herrnhuter Brüdergemeine durch halb Europa, zum einen der eigenwilligen Architektur wegen, zum anderen, weil die Herrnhuter eine Tradition pflegten, die Adolf nachdenklich stimmte: Jedes Gemeinemitglied war verpflichtet, seine eigene Totenrede zu schreiben. Solche Gewissensprüfungen verhindern ja nicht den kleinen Luxus, sondern fördern ihn. Die Gewissensfrage „2000 DM für eine Lampe. Muss das sein?“ lässt sich viel leichter beantworten: „Ja, muss sein. Denn das ist das Erste, was ich erblicke, wenn ich morgens die Augen aufmache. Da will ich keinen Kompromiss sehen.“

Adolf überstand alle Programmreformen beim Sender und ging rechtzeitig in Rente, um sich nicht allzu liebdienerisch den jungen Redakteuren vorstellen zu müssen. Er sammelte seine Interviews auf einer eigenen Homepage, „Nachgefragt“, und es wären noch einige dazu gekommen, hätte ihn nicht die Krankheit gebremst.

Hämochromatose, sein Körper war nicht in der Lage überschüssiges Eisen auszuscheiden. Regelmäßige Aderlässe halfen, „damit können Sie alt werden“, beruhigten die Ärzte, aber die Leber war schon zu stark geschädigt. Zwei Jahre zog sich das Leiden hin, eine Vielzahl an Therapien, die ihn nicht vom Reisen abhielten, selbst Rajasthan war nicht zu fern.

Seine letzte Bleibe hingegen suchte er in der Nähe. Im Frühjahr 2021 führte er Matthias an ein Grab auf dem Alten St. Matthäusfriedhof, zwei weiße Marmorkreuze. „Schöne Stelle, gute Nachbarschaft. Die Gebrüder Grimm, Rio Reiser. Davon stirbt man ja nicht, dass man weiß, wo man später beerdigt ist!“ Sie fuhren ein letztes Mal ans Meer, daheim warteten die Freunde, die ihn in die Arme nahmen, als es zu Ende ging. Denn sie hatten einander noch nie allein gelassen.

Nicht immer der beliebteste Tischnachbar. Denn er hasste Small Talk

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