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Christine Arend

© privat

Nachruf auf Christine Arend: Liebe war etwas Praktisches

Sie wusste so viel, nur eins nicht: Was Langeweile ist. Immer hat ihr Kopf den Körper überstimmt

Wer führt Protokoll?“ Wo immer diese Frage gestellt wird, ob auf Elternabenden oder Vereinssitzungen, geschieht ein Wunder: selbst die Lautesten werden kleinlaut. Wenn es galt, den Kassenwart zu machen, den Wahlkampfstand aufzubauen, Stolpersteine zu putzen, Christine Arend war zur Stelle. Die Liste der zu erledigenden Dinge war unendlich lang, weil sie gern das tat, was andere ungern taten.

Warum? Weil sie wollte, dass es allen gut geht. Niemand sollte sich fühlen wie sie damals als Kind. Aus Ostpreußen kam die Mutter im letzten Kriegswinter mit drei Kindern ins zerbombte Hamburg. Hin und her wurden sie verschoben wie Ballast, bis sie endlich Anfang der 60er Jahre ein kleines Stück Land in Buchholz zugewiesen bekamen. Ein Haus wurde gebaut, kraft der eigenen Hosenträger. Denn der Vater war wieder da aus der Gefangenschaft. Er fand eine Anstellung bei der Eisenbahn, was für Christine ein Glück war, denn sie durften als Familie umsonst in alle Himmelsrichtungen reisen.

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“

Die höhere Handelsschule öffnete die Tür zur Welt noch ein wenig weiter. Sie ging nach Berlin, arbeitete als Kontoristin, als Redaktionssekretärin bei den großen Zeitungen, trank gern ihren Kaffee im mondänen Europa-Center, wo sie Gottfried traf, der ein Studierter war, eloquent, und auch sonst sehr verführerisch dank seiner schönen Stimme und seiner taktsicheren Tanzkünste. Während ihrer Schwangerschaft holte sie das Abitur nach, sie wollte Dokumentationswissenschaft studieren, aber nach dem zweiten Kind blieb dafür keine Zeit mehr.

Also arbeitete sie weiter als Sekretärin in Teilzeit. „Eine ungemein tüchtige Kraft“ hieß es früher, wenn Chefs Komplimente machten, immer ein wenig herablassend, weil sie es ja eigentlich sich selbst zuschrieben, dass in ihrem Aufgabenbereich alles so reibungslos funktionierte. Tatsächlich waren es Frauen wie Christine Arend, die den Laden zusammenhielten, im beruflichen wie im familiären, in guten wie in schlechten Zeiten. „Man kann doch nicht jemand verlassen, nur weil er Probleme hat“, gab sie ihren Kindern auf den Weg, „schließlich sind Probleme dazu da, gelöst zu werden.“ Christine Arend liebte Sinnsprüche dieser Art, weil sie sich gut notieren und weiterreichen ließen: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“

Sie war keine Frau des zärtlichen Überschwangs. Liebe war für sie etwas Praktisches. Als ihre Tochter auf einer Trainingsfahrt mit dem Schwimmverein eine Folge ihrer Lieblingsserie „Die Märchenbraut“ verpasste, stenographierte sie die Handlung mit und schickte sie ihr in schönster Reinschrift hinterher. Als in ihrem SPD-Ortsverband Neu-Westend die Parteikasse Rückstände aufwies, weil ältere Mitglieder mit ihren Beiträgen in Verzug waren, weigerte sie sich, Mahnungen zu schreiben und suchte stattdessen alle persönlich auf. Sie besuchte alle Konzerte ihrer Tochter, obwohl es ihr lieber gewesen wäre, wenn die ihre Karriere als Soloklarinettistin durch eine ordentliche Ausbildung abgesichert hätte. Was sie nicht hinderte ihr voll Stolz eine Schmetterlingskette aus Notenblättern zu falten.

Wenn sie anderen schrieb, und sie schrieb leidenschaftlich gern, Briefe wie Postkarten, dann in Schönschrift, Buchstabe für Buchstabe eigens vorher eingeübt, mit Herzchen und Kringel. Zu allen Feierlichkeiten gab es Post, pünktlich, denn sie kannte die Geburtstage von Freunden und Familienangehörigen auswendig. Die Antworten, so welche eintrafen, hat sie an einer Wäscheleine aufgehängt, um sich daran zu erfreuen. Wertgeschätzt sollte sich das Gegenüber fühlen. Deswegen ging sie auch so gern tanzen mit Gottfried, und Bälle wurden seinerzeit immer und überall gefeiert, groß in der Festhalle am Funkturm, ausgelassen im Kleingärtner-Vereinsheim. Im Sommer ging es nach Amrum, da konnte sie ausspannen, denn der Rest des Jahres war ausgefüllt mit Aktivitäten aller Art, auch als sie im Ruhestand war, auch als sie nicht mehr für Gottfried sorgen musste.

In ihrer Wohnung fand sich ein großer Karton mit der Aufschrift: „Was ich noch lesen will.“ Alles wollte sie noch lesen. Zeitschriften, Programmhefte, Flugblätter. Sie bewahrte das Naturkostmagazin „Schrot & Korn“ ebenso auf wie das „DB Mobil-Magazin“. Es gab so unendlich viel, was sie nicht verpassen wollte. Interessante Sendungen, aufregende Veranstaltungen, wenn nicht sie selbst, dann sollten andere dorthin gehen. Ihr geliebter kleinerer Bruder war jung bei einem Unfall gestorben, auch ihr Vater war nicht sehr alt geworden, schon ihnen zuliebe wollte sie jede Stunde nutzen. Immer lief das Radio. Ständig war sie in Unruhe, getrieben von der Angst, etwas zu versäumen. Kein Wunder, dass sie einen Herzschrittmacher brauchte. Als sie aus der Narkose erwachte, war ihre erste Sorge, sich ein Telefon reichen zu lassen. Sie rief die Nachbarin an: „Ich kann ihnen morgen die Zeitung nicht bringen.“

Sie selbst wollte keine Fürsorge. Kein Hörgerät, keinen Rollator, keine Handreichungen. Was sie brauchte, waren die Dinge um sie herum. Liebe ist Anhänglichkeit. Eine Feder, ein Blatt, Kleinigkeiten, aber von Gewicht. Alles beschriftet. Souvenirs des Lebens. Ob ein Stück Baumrinde oder die erste „Spiegel“-Ausgabe. Jedes Ding war eine Insel der Erinnerung, an der sie anlanden konnte. Alle Urlaube dokumentiert mit Muscheln, Sand, abgefüllt in Erinnerungstüten. Selbst Wespen, die im Hausflur verendet waren, mysteriöse Todesfälle. Sie hat sie in Tütchen verpackt und mit einem erklärenden Kommentar fein säuberlich archiviert. Alles ist wert, erinnert zu werden.

Sie wusste so viel, nur eins nicht: Was Langeweile ist. Immer hat ihr Kopf den Körper überstimmt, bis der Körper nicht mehr wollte. Nie mehr an Feiertagen ein Brief von ihr im Briefkasten. Nie mehr an Weihnachten ihr Vortrag des Gedichts „Vom Schenken“ von ihrem Lieblingslyriker und Grabnachbarn Ringelnatz, der so schön Liebeserklärungen mit Ratschlägen verband: „Schenke mit Geist ohne List. / Sei eingedenk, / dass dein Geschenk – / Du selber bist.“

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