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Dorothea Pflug

© privat

Nachruf auf Dorothea Pflug: Kein Jammern und kein Klagen

Einiges hat sie zu verkraften. Dennoch pfeift und singt sie immer weiter.

Von Judka Strittmatter

Die meisten nennen sie „Dorle“ und erleben sie als Frohnatur – egal, welche Widrigkeiten das Leben so bereithält. Wer ihr Vater ist, erfährt Dorle nie, da kann sie die Mutter ewig fragen. Das Geheimnis nimmt diese mit ins Grab. Dorothea heißt „Geschenk Gottes“, das muss reichen.

Bei den Großeltern wohnt Dorle, in Eberswalde, die Mutter arbeitet als Krankenschwester. Oma und Opa sind Schwaben aus der Ukraine, über Pommern hat sie der Krieg nach Brandenburg getrieben. Dort haben sie einen großen Garten und darin eine Ziege, zum Frühstück gibt es für die Enkelin meist Haferschleim mit Ziegenmilch und selbstgemachtem Rübensirup. Schwarz-Weiß-Fotos aus dieser Zeit zeigen ein lachendes Mädchen, mal liegend auf drei Riesenkürbissen, mal prahlend mit einer Monstergurke im Arm. Oder mit den Cousinen beim Baden im Werbellinsee. Eins auch – Dorle mit Pionierhalstuch.

In der Nähe steht eine Russenkaserne, da stellt sich das Mädchen manchmal an den Zaun und singt und tanzt. Die Soldaten sind nett, sie mögen Kinder. Doch nicht alle Kinder sind nett zu Dorle; als sie mit der Mutter nach West-Berlin umzieht, weg von Bekenntnisdruck und Staatsdoktrin, erfährt sie fiese Hänseleien: kein Vater, aus dem Osten, die Kleider selbstgenäht. Die Häme nagt an Dorles Selbstbewusstsein, nie wieder weicht sie aus ihrem Erinnerungsrucksack. Und dennoch pfeift und singt sie weiter – so ist sie eben. „Sie hat nie bedauernd zurückgeblickt“, sagt Dorles Tochter Martha. Stolz empfindet Dorle, als sie im Chor der Philharmonie auftritt. Das Singen macht so frei, so stark, so herrlich unabhängig.

Lieber Beatles als die Stones

Der Kurzhaarschnitt wird ihr Markenzeichen, im Lauf der Jahre wächst er kaum wahrnehmbar vom Braunen ins Schneeweiße. Aber vorher geschieht noch viel. Nach der zehnten Klasse besucht sie die Hauswirtschaftsschule und will dann Krankenschwester werden, wie die Mutter. Doch sie nimmt einen Abzweig und wird Beschäftigungs-, heute Ergotherapeutin. Und sie lernt Reiner kennen, ihre große Liebe. Der mag klassische Musik und die Beatles, so wie sie. Bei den Stones war sie in der Waldbühne 1965, trotzdem konnte sie mit denen nicht viel anfangen.

1973 heiraten die beiden, um eine Wohnung zu bekommen, die gibt es dann in Charlottenburg. Aber Reiner ist Lehrer, in diesen Jahren gibt es wenig offene Stellen an den West-Berliner Schulen. Also ziehen sie um nach Uelzen in der Lüneburger Heide. Sie wollen auch der Enge West-Berlins entkommen. Martha wird geboren. Dorles Fähigkeiten sprechen sich herum, eine Ergotherapeutin gibt es auf dem platten Land noch nicht, bald schon fährt sie von Dorf zu Dorf und behandelt.

1983 wird sie nochmal schwanger, aber das endet furchtbar. Sie hat Gebärmutterhalskrebs, wird operiert, „untenrum ausgeräumt“, wie man das damals nennt, sie muss zur Strahlentherapie. Und sie hält durch, kein Jammern und kein Klagen. Dorles Ehe übersteht das alles, Reiner hält zu ihr. Und sie zu ihm; seine psychischen Erkrankungen sind zu verkraften. Dorle nimmt die Menschen, wie sie nun mal sind. Außerdem hat sie das Singen und ganz viel anderes, sie gärtnert und flicht Körbe, töpfert, webt Stoffe. Und hat inzwischen ihre eigenen kleinen Praxisräume für die Patienten. Sie bildet sich weiter, „sensorische Integrationstherapie“ heißt die neue Fähigkeit.

Nach 23 Jahren geht es wieder nach Berlin zurück, wenn auch an den Rand, nach Finkenkrug. Man zieht in Reiners Elternhaus, baut um, ein neues Nest. Die Tochter erinnert sich an Gitarre spielende Eltern, und dass die Mutter wieder öfter in die Philharmonie geht. Die Jugendjahre im Chor haben ein stabiles Band gewebt. 2010 stirbt Reiner, 2011 bekommt Dorle ihre erste Enkeltochter.

Bis 2013 arbeitet sie noch selbst, dann kommt die Rente. Und das Oma-Dasein. Darin geht Dorle vollends auf. Zwei Enkelinnen halten sie bald voll auf Trab. Es müssen Kastanienmännchen gebastelt, mit Fingerfarben gemalt und Plätzchenteig geknetet werden. Und wenn alles fertig ist, wieder von vorn. Oma ist die Beste. Mischt sich auch nicht in die Erziehung ein, was Tochter Martha sehr erleichtert.

Wieder vergehen ein paar schöne Jahre und plötzlich, niemand will es wahrhaben, ist die Demenz da. Hat sich leise angeschlichen und die Mutter übernommen. Tulpen sind auf einmal Stiefmütterchen und der Rest einfach „Dingsbums“, das Haus verlottert, Autofahren geht nicht mehr. Aus dem Haus mit Garten muss sie ausziehen, ein harter Abschied, Dorle muss so viel an Selbstbestimmung aufgeben.

Am Ende dieses Ziehenlassens steht die Demenz-WG in Schöneberg, aus der sie manchmal ausbüxt, wo Tochter und Enkelinnen aber auch oft zu Besuch sind. Die Oma soll es schön haben, auch wenn sie nun jeden Monat mehr vergisst. Eine letzte gemeinsame Reise an die Ostsee, nach Binz und an den Strand, gemeinsam Lieder singen und sich von den Möwen das Brötchen wegschnappen lassen. Ein letztes Mal Weihnachtsmarkt und Gemäldegalerie, aber da schläft Dorle in ihrem Rollstuhl schon immer ein.

Sie wird immer müder und schwächer, ihre Zuspruchsworte „danke“ und „cool“ sagt sie kaum noch, dass man essen muss, hat sie vergessen. Die letzten Krankenhausaufenthalte gestalten sich dramatisch, weil in manchen, großen Häusern inzwischen auch Wesentliches in Vergessenheit gerät, Verständnis, Mitmenschlichkeit. Dorle stirbt schlussendlich an einer Lungenentzündung. Und weil sie auch eine Naturliebhaberin war, kommt sie ins Grüne, unter einen Baum, zu ihrem Reiner, der schon da ist. Die Zeremonie hat Tochter Martha auf einen Tag gelegt, der ihrer Mutter nur gerecht wird, wie sie findet: Der 8. März, Weltfrauentag!

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