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Emma Karlowna Hartmann

© Mike Wolff

Nachruf auf Emma Karlowna Hartmann: Ein lieber Gott? Unmöglich!

Die Frau, die vorm Prinzenbad und auf der Admiralsbrücke die Zeitungen verkauft hat, ist nicht mehr da

Von David Ensikat

Eine spricht von der Warmherzigkeit, die sie empfand, wenn sie sie am Kreuzberger Prinzenbad traf. Da verkaufte Emma Hartmann Zeitungen und strickte Socken und Pulswärmer für die Leute, die sie mochte. Sie war immer da.

Eine spricht von der Undankbarkeit. Emma hat geklagt über die Leute, über das Leben. Sicher hatte sie ein schweres Leben, aber wenn man so viel Hilfe bekommt von so vielen Leuten, dann kann man doch etwas freundlicher in die Welt blicken. Und wie sie den farbigen Obdachlosen fortgejagt hat, „schwarzer Teifel“ rufend, das war nun alles andere als fein.

Eine spricht vom Klassenbewusstsein, das Emma Karlowna hatte, doch, doch, die wusste ganz genau, wer zur Arbeiterklasse gehörte und wer nicht. Ein wacher, politisch denkender Mensch, heiter und witzig auch. Diese Frau sprach mit ihr Russisch, deshalb wusste sie auch vom zweiten Namen, Karlowna; der Vater hatte Karl geheißen. Sie erfuhr viel mehr als jene, die nur Deutsch mit ihr sprachen.

Einer erzählt von Gerüchten, dass die alte, arm wirkende Frau in Wirklichkeit wohlhabend war und sich das nur nicht ansehen ließ, damit die Leute ihr mehr geben. Kann doch sein, oder? Die ganzen linken Romantiker in Kreuzberg mit den Eigentumswohnungen und dem schlechten Gewissen, das sie beruhigen, indem sie so einer Frau das doppelte für die Zeitung bezahlen und ihr auch sonst gern mal einen Fünfer zuschieben.

Eine sagt, dass Kinder Angst hatten vor Frau Hartmann mit dem Kopftuch und den abgerissenen Klamotten und dem Gebiss, das ihr andauernd verrutschte, und in dem ein Schneidezahn fehlte. Man verstand sie auch so schwer. Und was man verstand, klang urtümlich, ein Deutsch wie aus dem Märchen.

„Mein Goldiges!“

Eine erzählt, wie Emma Kindern Süßes schenkte und sie ebenso freundlich grüßte wie die Erwachsenen: „Mein Goldiges! Gott behiete dich!“ Nein, nein, die Kinder haben sie geliebt!

Vor einem Jahr wurde Emma Hartmann kurz zu einem Twitter-Star. Ein Video machte die Runde, auf dem packt sie beherzt einen riesigen Schwan bei den Flügeln und wuchtet ihn über die Brüstung der Admiralsbrücke, damit er auf dem Landwehrkanal weiterschwimmen kann. Leute klatschen Beifall. Bild, B.Z. und Tagesspiegel berichteten von der Rettungstat und schrieben auch, dass es laut Tierschützern vielleicht gar keine war, weil der Schwan auch ohne sie seinen Weg ins Wasser gefunden hätte.

Es ist ja sowieso alles eine Frage der Betrachtung und des Wissens und des Willens der Betrachtenden. Ob Emma Hartmann den Schwan gerettet hat, mag fraglich sein. Die einen sehen den Kraftakt der kleinen Frau, die anderen die zerbrechlichen Flügel des Tieres.

Dass die Menschen, die ihr Geld zusteckten, einem armen Menschen halfen, ist dagegen ziemlich sicher. Ob sie es aus Mitgefühl taten, oder um sich Freundlichkeit und liebe Grüße zu erkaufen, oder weil sie die Frau, die immer da war, als Bereicherung empfanden – ganz egal. Tatsache ist, dass Emma Hartmann eine der bekanntesten Unbekannten dieser Stadt war. Vor der Schwanengeschichte erschienen zwei lange Porträts in Zeitungen, eins davon im Tagesspiegel.

Immer wieder stellte oder hockte sich jemand zu ihr und sprach mit ihr, auch wenn das etwas mühsam war. Die Gegend, in der sie sich in die Öffentlichkeit begeben hatte, Kreuzberg am Landwehrkanal, ist voller Menschen mit guten Absichten. Inzwischen ist es teuer, hier zu wohnen. Bei den letzten Wahlen gewannen die Grünen 40 Prozent, SPD 17, Linke 15.

Ob Emma Hartmann je zu einer deutschen Wahl gegangen ist, weiß niemand. Russlanddeutsche, so viel weiß man, wählen ziemlich anders als die Kreuzberger.

Die meisten Russlanddeutschen haben Vorfahren, die an der Wolga wohnten, von der Zarin vor 250 Jahren eingeladen, um die Gegend urbar zu machen. Stalin hat sie vor 72 Jahren von dort vertreiben lassen, nachdem die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfallen hatten. Emma aus Saratow an der Wolga war ein Jahr alt, als sie mit den Eltern nach Sibirien gelangte. Sie war das kleinste Kind, in einem dieser Winter hielt man sie für erfroren, doch sie überlebte die Kälte und den Hunger. Sie kratzten sich, bis die verlauste Kopfhaut blutete. „Leben heißt sich quälen.“ Den Satz lernte Emma von der Mutter, die wegen des Rheumas kaum mehr laufen konnte.

Die Mutter war ausgesprochen fromm. Nicht katholisch, nicht orthodox, sie muss irgendeiner Sekte angehört haben. Dass es einen Gott gibt, davon konnte sie die Tochter überzeugen. Irgendjemand musste doch verantwortlich sein für das ganze Übel. Ein lieber Gott? Unmöglich! Dafür einer, der uns alle sterben lässt, ob arm, ob reich. Und niemand darf dann mitnehmen, was er auf Erden zusammengerafft hat. Das war Emmas Trost.

Oberschwester im Krankenhaus

Nach zehn Jahren durften sie aus Sibirien nach Kasachstan umziehen, wo das Leben besser wurde. Emma ging zur Schule und wurde schließlich Krankenschwester. Bis zur Oberschwester hat sie es gebracht. Den Leuten, die sich dann später vor dem Prinzenbad oder an der Admiralsbrücke zu ihr setzten, gab sie manchmal Gesundheitstipps. Das immerhin erinnerte daran, dass diese abgerissene Frau einst eine andere gewesen war.

Über ihr Leben hat kaum jemand mit ihr gesprochen; es war ja auch sehr mühsam, das Sprechen wie das Leben. Bei Emma Hartmann war es wie bei den meisten alten Russlanddeutschen: Deutsch - die Sprache der Vorfahren, alt, rudimentär. Russisch - die Sprache ihres Lebens. So gelang es immerhin der einen Frau, die Russisch kann, etwas mehr über Emmas Hartmanns Leben zu erfahren.

Dass sie zwei Söhne hatte etwa, und dass deren Vater nicht viel taugte und gesoffen hat. Kümmern musste sich Emma. Der eine Sohn, Anatol, wurde Lastwagenfahrer und ist meistens unterwegs zwischen Litauen und Russland. Er hat zwei Kinder, Emma Hartmanns Enkel. Dass sie in Deutschland leben, und dass auch Anatol oft hier ist, hat die Frau erst nach Emma Hartmanns Tod erfahren.

Vom anderen Sohn weiß sie nicht viel, nur dass er in Russland lebt und keine Arbeit hat, und dass seine Mutter im reichen Deutschland ihm Pakete schickte. Seit dem Ukrainekrieg sind viele wieder zurückgekommen und lagen dann in Emma Hartmanns kleiner Wohnung.

Emma Hartmann 2018 vorm Eingang des Prinzenbades
Emma Hartmann 2018 vorm Eingang des Prinzenbades

© Mike Wolff

Deutschland, reiches Land - es war nicht ihre Heimat, und es ist ihr auch nie zur Heimat geworden. Ein Fehler, dass sie hergekommen ist, so hat sie es gesagt. Allerdings war auch das Leben in Kasachstan nach dem Ende der Sowjetunion viel härter geworden. Sie musste nach Russland umziehen. Ihre Schwester ist damals nach Deutschland gegangen, irgendwohin an die Nordsee. Dort wurde sie krank, und Emma Hartmann beschloss, ihr zu folgen, um ihr beizustehen. Das war 2001. Sie gelangte zunächst in eine Flüchtlingsunterkunft in Berlin.

Und erfuhr vom Tod der Schwester. In Russland waren alle Zelte abgebrochen, Rückkehr unmöglich. Laut Bundesvertriebenengesetz war sie nun Spätaussiedlerin, also Deutsche, und erhielt mit der Staatsangehörigkeit auch Geld vom Staat.

Das war nie viel, zuletzt betrug die Rente 550 Euro. Die Miete, die sie zahlte, war unwesentlich geringer. Vom Amt bekam sie keinen Zuschuss, weil sie nicht die offizielle Mieterin war. Froh war sie, dort wohnen zu können, allein, ein Zimmer, Küche, Bad.

Dass sie mehr Geld zum Überleben brauchte, war klar, und so kam sie auf die Sache mit den Zeitungen. 20 Jahre ist das her, damals haben die Leute noch öfter Zeitungen gekauft. Das Prinzenbad war um die Ecke, da gibt es die sogenannten Frühschwimmer, die ab sieben ihre Bahnen ziehen.

Vor dem Kassenhaus kamen sie an Emma Hartmann vorbei, die da auf ihrem Schemel neben dem Zeitungsaufsteller hockte und jene, die sie kannte, grüßte. Es gab welche, die ihr beim Imbiss Kaffee und etwas zu Essen kauften, als das Gebiss noch besser passte, Brötchen, später Joghurt. Und es gab etliche, die den Preis der Zeitung kräftig aufrundeten.

Die Leben-Qual-Gleichung

Es gab auch einen Arzt, der ihr anbot, für ein neues Gebiss aufzukommen. Was sie ablehnte, nein, nein, nicht so viel Aufwand. Die Leben-Qual-Gleichung der Mutter war womöglich auch ein Auftrag.

Es gab die Frühschwimmerin, die ihren Mops für die eine Stunde bei Emma Hartmann ließ. Das traf sich gut, denn es gibt Leute, die spenden lieber Geld für Hunde als für Menschen.

Es gab die Frau, die ihr die Bürokratenpost erklärte und die an den Stadtrat schrieb, als Emma Hartmann nicht mehr auf der Admiralsbrücke die Zeitungen verkaufen durfte. Das tat sie im Winter, wenn das Bad zu war. Der Stadtrat erteilte eine Ausnahmegenehmigung, inoffiziell, aber wirksam.

Und es gab die Frau, die Russisch mit ihr sprach. Als sie sie zum ersten Mal Emma Karlowna nannte, die respektvolle russische Form, sagte diese, dass die Zeit der respektablen Emma Karlowna weit zurückliege.

Sie wollte anfangs auch nicht fotografiert werden. Sie wusste, dass Ärzte aus dem Krankenhaus, in dem sie gearbeitet hatte, ebenfalls nach Deutschland ausgewandert waren. Was sollten die denn von der Oberschwester denken? Später war ihr das egal. Macht doch eure Fotos. Seht mich an.

Vor ein paar Jahren hat der Mann mit dem Lieferwagen aufgehört zu arbeiten. Er hatte ihr immer die Zeitungen gebracht und die nicht verkauften abgeholt. Er hatte die Abrechnungen gemacht, nach denen ihr 20 Cent pro Zeitung blieben. Woher sie danach die paar Zeitungen bekam, die sie noch verkaufte, weiß niemand so genau. Von einem Spätkauf, wo sie selbst den vollen Preis bezahlt hat? Kann sein.

In diesem Jahr saß sie nicht mehr da. Jemand hat sie noch mit dem Rollator zum Einkauf wackeln sehen.

Die Frau mit dem Mops bekam vor drei Wochen einen Anruf von Emma Hartmanns Handy. Ein Mann mit russischem Akzent sagte, dass Emma Hartmann gestorben sei, im Krankenhaus. Die Frau mit dem Mops rief die Frau, die Russisch kann, an, so machte die Nachricht die Runde. Bei der Beerdigung in Pankow waren viele Leute, 40 vielleicht, fast alles Russlanddeutsche. Familie. Ein Pope sang orthodoxe Gebete. Er rief den Gott an, den Emma Hartmann für keinen besonders guten gehalten hatte.

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