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Friedemann Stöhr

© privat

Nachruf auf Friedemann Stöhr: Alles gleichzeitig

Ein Studium neben der Arbeit, eine Band, noch eine Ausbildung. Das Leben durfte nicht stillstehen

Gesamtschule, Kreuzberg, achte Klasse. Friedemann Stöhr ließ die Schüler Goethes „Erlkönig“ auswendig lernen und vortragen. 32 Verse, 200 Jahre alt, ein Vater mit Kind auf einem Pferd, dazu ein komischer Geist, der dem Kind das Leben nimmt. Selbst diesen einen Schüler, der kaum Deutsch sprach, der kaum etwas sagte, selbst diesen Schüler brachte der Lehrer dazu, nach vorne zu gehen, sich der Klasse zuzuwenden und die Verse zu rezitieren. Keiner der anderen lachte, keiner machte sich lustig. Die Klasse fieberte mit. Sie wollten, dass auch er es schaffte und halfen, wenn er stockte.

27 Jahre war Friedemann Stöhr Lehrer an dieser Schule, von 1973 bis 2000. Er gründete eine Basketballmannschaft, und es war eine Freude, wenn die Kreuzberger Jungs nach Zehlendorf fuhren, um die Gymnasiasten platt zu machen. Oder sie übten ein Theaterstück von Erich Kästner ein, spielten es den Eltern vor und wurden zum Theatertreffen der Jugend eingeladen.

Einem Schüler drückte der Lehrer einen Bass für die Schulband in die Hand, den anderen setzte er ans Schlagzeug. Im Musikunterricht spielte er auf dem Keyboard die Musik, die die Schüler mochten. Er ließ sie beim Karneval der Kulturen tanzen. Sie spürten, dass er sie ernst nahm, dass er echt war mit seiner ruppigen Art. Waren sie mit ihren Noten nicht einverstanden, konnten sie zu ihm gehen und Argumente vorbringen. Und selbstverständlich konnte der Lehrer auch giftig werden, wenn Regeln nicht eingehalten wurden: Danke sagen, Hallo sagen, pünktlich sein – alles wichtig!

Er und seine Schwester kamen nur am Rande vor

Bei ihm selbst fand alles gleichzeitig statt. Neben der Arbeit an der Schule studierte er Musik. Dann spielte er Keyboard in einer Band, eigene Platte, Auftritte, Tourneen. Eine Ausbildung als Musikgestalttherapeut kam noch dazu und natürlich baute Friedemann sich seine eigenen Instrumente, eine Körpertambura zum Beispiel. Woher all das kam? Sein Vater war Klavierbauer und Klavierstimmer, ein ruhiger Mann. Die Mutter wiederum war ziemlich von sich selbst eingenommen. Friedemann und seine Schwester kamen nur am Rande vor.

Da war Heide. Eine schöne Frau, offen und fröhlich. Sie war sofort in ihn verliebt, er war sofort in sie verliebt. Vier, fünf Jahre hatten sie zusammen verbracht, als der Krebs bei ihr diagnostiziert wurde. Es ging rasend schnell. Friedemann entschied, dass er sie zu Hause haben wollte, dass sie nicht im Krankenhaus sterben sollte. Er pflegte sie, begleitete sie gemeinsam mit einer Freundin, bis sie sie gehen lassen mussten. Ein Jahr Trauer. Doch Friedemann war keiner, bei dem das Leben stillstehen durfte.

1992 kam eine neue Lehrerin an seine Schule, Marion. „Ich habe seine Stimme gehört, ausdrucksstark, toll und mit einem Hauch von Erotik und dachte mir: Huch, wer ist denn das.“ Sie redeten, sie sahen sich in die Augen, sie gingen ins „Schwarze Cafe“ an der Kantstraße. Mit Friedemann machte es Spaß, das Leben zu erobern, Theater, Sauna, Museen, Konzerte, Reisen. Das war der Mann, den Marion heiraten wollte, mit dem sie Kinder wollte, das war ihr schnell klar.

Doch schon sechs Wochen nach dem ersten Blick, dem ersten Kuss, musste sie ihn in die Notaufnahme bringen. Für ihn war das nicht das erste Mal, er hatte Morbus Crohn, eine chronische, unheilbare Entzündung des Darms, die in Schüben auftritt. Operationen, Schmerzen, doch mäßigen wollte Friedemann sich nicht. Er rauchte, er trank Kaffee, er aß viel zu viel Süßzeug.

1993 zogen sie zusammen. Getrennte Schlafzimmer behielten sie, das war wichtig, damit jeder zu sich kommen konnte. Überhaupt gab es kein waberndes, undefiniertes „Wir“. Sie verabredeten sich zu „Wir-Zeiten“. 1996 heirateten sie.

Vier Jahre darauf musste Friedemann seinen Lebensjob aufhören, es ging nicht mehr. Die Schmerzen, die Schübe wurden heftiger, eine Leukämie kam dazu. Manchmal konnte er die ganze Nacht nicht schlafen, dann saß er in seinem dunklen Zimmer und hörte eine CD nach der anderen.

Nochmal in dieselbe Straße, jetzt getrennt

Solange Friedemann noch Kraft hatte, wollte und musste er sich beschäftigen. Kein Stillstand, die Sehnsucht nach Momenten der Freude zu groß. Zum Glück gab es nun das alte Haus ihrer Großeltern, das sie Zimmer für Zimmer renovierten und für sich selbst bewohnbar machten. Dann gab er Vorträge und Workshops; er vermittelte, wie Musik bei der Bewältigung von Krankheiten helfen kann. Schließlich schrieb er noch ein Buch dazu.

Für Marion ging es nicht mehr. Ja, sie liebte ihn, aber seine Partnerin wollte sie nicht mehr sein. Sie zogen auseinander – um festzustellen, dass sie trotzdem noch beieinander sein wollten, nicht als Paar, aber als Freunde. Also zogen sie nochmal um, in dieselbe Straße, er in die Nummer 8, sie in die Nummer 14.

Immer ging es irgendwie weiter. Bis Corona kam, bis der Lockdown kam, für Friedemann der stets vermiedene Stillstand. Rausgehen ging nicht mehr. Marion übernahm seine Versorgung. „Es war ein schmerzhafter Prozess zu sehen, wie sich sein Leben reduzierte, was alles nicht mehr ging. Wie er nach Dingen suchte, aus denen er noch Freude ziehen konnte.“

Friedemann hatte eine Therapeutin. Sie sprachen darüber, bis wann ein Leben lebenswert sei, für ihn. Sie redeten, über seine Angst vor dem Tod. Ein, zwei Tage, bevor er starb, als die Therapeutin sich von ihm im Hospiz verabschiedete, öffnete sie noch einmal die Fenster, damit er das Rauschen des Windes in den Blättern hören konnte.

„Jetzt ist Schluss, ich will nicht mehr“, sagte er zu Marion.

„Und just in dem Moment, im dem ich gerade im Bad war, wo er mich hören konnte, wo er wusste, dass ich da bin, aber nicht direkt bei ihm war, da hat er sich vom Hof gemacht.“

Zu seiner Beerdigung redeten auch drei Schüler von ihm. Sie bedankten sich bei Friedemann, dafür, dass er sie für Musik begeistert hatte, dass sie sich durch ihn so viel getraut und ausprobiert hatten.

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