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Günther Schäfer

© dpa

Nachruf auf Günther Schäfer: Die Wucht der Ereignisse, diese Energie!

Die Mauer hatte seine Familie getrennt. Als die Mauer fiel, zog er von New York nach Berlin

Die Farbeimer standen bereit, ausreichend Pinsel waren auch da. Das Gerüst war startklar. Günther aber war angespannt. Würde alles genau so stattfinden, wie er es geplant hatte? Würden genügend Leute kommen, um zu helfen? Günther wusste immer exakt, wie etwas sein sollte, wie die Bilder in Ausstellungen zu hängen hatten, wie das Licht ausgerichtet werden musste. Nichts überließ er dem Zufall. Stundenlang konnte er sich darüber austauschen, warum er für dieses Bild genau diesen Rahmen und nicht einen anderen gewählt hatte. „Immer mit der Ruhe“, sagte ein Freund zu ihm. „Ich fahre dich hin, wir laden aus. Dann legen wir los. Es wird klappen. Du wirst sehen.“

Günther blieb todernst – bis zu dem Moment, an dem sie an der East Side Gallery standen, direkt vor seinem Bild, das Bild seines Lebens, das er an drei kalten Tagen im März 1990 an die Ostseite der Berliner Mauer gemalt hatte. „Vaterland“ heißt es, eine Verschmelzung der Deutschlandfahne und der Fahne Israels. Eine Mahnung, ein Appell, für den Frieden, für die Auseinandersetzung mit der Geschichte, gegen jede faschistische Anwandlung.

Wenige Tage vor den ersten und letzten freien Wahlen der DDR wurde es fertig. Journalisten, die dafür nach Berlin gekommen waren, passierten das Bild auf dem Weg vom Flughafen zum Palast der Republik. Fotos des Bildes gingen um die Welt. Es wurde gefeiert. Und es wurde abgelehnt. Hakenkreuze wurden draufgesprüht, Anti-Israel-Parolen, Graffitis. Unter dem Bild hatte Günther seinen Namen Adresse und Telefonnummer geschrieben, falls jemand mit ihm diskutieren wollte. Immer wieder warnte ihn die Polizei: V-Männer in der rechten Szene hätten gemeldet, dass er mal wieder Gesprächsthema sei.

Kleine Ausbesserungen machte Günther sofort, mindestens einmal im Jahr restaurierte er das Bild komplett. Da malten dann immer viele Leute mit. Sah Günther, dass alles am Schnürchen klappte, ließ die Anspannung nach, dann konnte er wieder lachen, konnte Touristen die historischen Zusammenhänge erklären. Natürlich stand er für Fotos und Selfies bereit.

Sonntags auf der Aussichtsplattform

Die Mauer hatte Günthers Familie getrennt, ein Teil in Franken, der andere in Thüringen. Ihr Land, genau auf dem Grenzstreifen, hatten sie mit Traktoren beackert. Dann war da kein Acker mehr, sondern sechs Grenzzäune und der Todesstreifen. Sonntags fand sich der fränkische Teil der Familie auf der Aussichtsplattform ein und winkte mit weißen Leinentüchern. Weit hinten auf einem Hügel standen die Thüringer und winkten zurück.

Günther wurde Offsetdrucker in Frankfurt am Main. Wenn er die Fotos betrachtete, die er Bücher, Broschüren und auf Plakate druckte, dachte er: So was will ich auch machen! Er lernte ein Künstlerpaar kennen, der Mann malte, die Frau fotografierte. Sie nahm ihn mit in ihr Studio, zeigte ihm die Technik, lehrte ihn Bildsprache und Komposition. Er nannte sie „die Tigerin“. Auch in der Sprache liebte Günther das Bildhafte. Und er liebte die Frauen. Viel hat er über sie gesprochen, über die, die er liebte, über die, die er fotografierte, und über die Unerreichbaren.

In Berlin verwandelte er seine große Friedrichshainer Wohnung in eine Mischung aus Galerie, Fotostudio, Dunkelkammer und Bar. Er lud zu Partys, Lesungen und Wohnzimmerkonzerten, zu Fotoshots, zu Drinks und Diskussionnen. Saß dann die Frau seines Interesses auf der weißen Couch, war er der große Charmeur. Befand sich eine Frau vor seiner Linse, ging es ihm nicht um äußere Perfektion. Er fotografierte sie, wie sie waren: mit unreiner Haut, beim Rauchen, auch beim Pinkeln. Mit manch einer war er kurz zusammen, mit der anderen länger, bis es wieder auseinanderging.

Von der Offsetdruckerei ging er in die Werbefotografie, „schöne Sachen fotografieren“, so nannte er das. Produkte, Menschen, angezogene und nackte, Musiker und Bands. Er verdiente gut, siedelte um nach New York, hatte eine Wohnung in Queens, ließ keine Party aus.

Als er im Herbst ‘89 im Fernsehen sah, wie die Schlagbäume in Deutschland geöffnet wurden, setzte er sich sofort ins Flugzeug. Mit seiner Kamera in der Hand ließ sich in Berlin durch die Tage und Wochen treiben. Fotografierte, wie die Menschen sich von der Mauer auf die Ostseite herabhalfen, wie ein Grenzsoldat durch ein Loch im Beton schaute, wie Kohl und Momper im Dezember durchs Brandenburger Tor liefen. Die Wucht der Ereignisse, diese Energie, dazu seine eigene Familiengeschichte – er gab New York auf, zog nach Berlin und machte den Umbruch der Stadt, speziell das Leben der Menschen in Friedrichshain zu seinem Lebensthema.

Tag für Tag lief er durch die Straßen seines Bezirks, ein kleiner Mann mit schwarzer Lederjacke, schwarzem Hut, Zigarette im Mund, über der Schulter die schwarze Kameratasche. Er lief, beobachtete, stets in Erwartung der Momente, die Bilder wurden. Um die Mauer mit dem dahinterliegenden Brandenburger Tor einmal ohne Menschen zu fotografieren, wartete er vier Stunden. In Havanna stand er mal mehrere Nächte an der Mole, weil er fotografieren wollte, wie ein großer Fisch an die Wasseroberfläche kommt. Dann kam eine große Welle und durchnässte seine Kamera. Fluchend rannte er ins Hotel, baute sie auseinander und leckte jedes einzelne Teil mit der Zunge ab wegen des Salzes. Das Foto gelang ihm dann trotzdem noch.

Er saß auch viel in Cafés, wo er sich mit Freunden stundenlang über Politik, Geschichte und Kunst unterhielt. Da rückte er nur selten von seinem Standpunkt ab. Wer selbst etwas vorbringen wollte, musste den richtigen Zeitpunkt abpassen und dann sehr gute Argumente haben.

Eine eigene Galerie, internationale Fotoausstellungen, Fotobücher – Günther schuf und schuf. Der Bundespräsident ehrte ihn. Doch mit bezahlten Aufträgen war es mitunter schwer, auch weil er sich selten auf Kompromisse einließ. Er verkaufte hier ein Bild für 900 Euro, dort mal eines für 500, dann wieder ein paar Fotobücher für 150 Euro. Wenn es ganz knapp war, ließ er sich von Freunden einladen zum Wodka, zum Kaffee.

Corona war schwer, keine Menschen, die er treffen und mit denen er reden konnte. Dann fotografierte er eben die große Leere, sein letztes großes Projekt. Er bekam einen Herzschlag, dann Krebs, die letzten Tage seines Lebens verbrachte er in einem Hospiz. Seine Freunde erinnern an ihn, zeigen seine Fotos, verwalten sein Archiv mit mehr als 500.000 Negativen.

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